Rhoenblicks Einleitung
Ein ausgezeichnete Analyse von Eric Gujer, Leiter des "NZZ"-Auslandressorts. Die Entwicklung in der EU seit ihrer Veröffentlichung in der "NZZ" vom 27.05.2014 bestätigt sie in jeder Hinsicht.
Das Gift des
Zweifels
„NZZ“ vom 27.05.2014, von Eric Gujer; aus „NZZ Archiv“.
EU-Kommission,
Ministerrat und Parlamentsmehrheit werden den Erfolg der Populisten bei der Europawahl
zu ignorieren versuchen. Dies könnte ein Fehler sein.
Der Front national in Frankreich an der Spitze, Ukip die
stärkste Partei in Grossbritannien, in vielen anderen Ländern Gewinne für EU-skeptische Gruppierungen –
der Wahlmarathon in 28 Staaten war gewiss kein Festtag für die europäische
Idee.
Professionelle Beschwichtiger können zwar zu Recht einwenden,
dass Europawahlen seit je Protestwahlen sind. Man macht die Faust im Sack und das
Kreuz bei schmuddligen Krawall-Parteien, kehrt aber bei als wichtig eingestuften nationalen Urnengängen
reumütig zu den Etablierten zurück. Ausserdem entschieden sich die Bürger auch diesmal oft
nach innenpolitischen Gesichtspunkten, während europäische Fragen eher eine untergeordnete Rolle spielten.
Beide Mechanismen – der Protest aus Geringschätzung und die Dominanz des Nationalen – sind auch von früheren EU-Wahlen bekannt. Genau hierin besteht indes die erste Niederlage der Europa-Freunde. Diese hatten 2014 grossen Aufwand betrieben, um die für die Bedeutung des Europaparlaments wenig schmeichelhaften Gesetzmässigkeiten zu durchbrechen. So einigten sich die Fraktionen auf Spitzenkandidaten und liessen diese in TV-Duellen gegeneinander antreten. Der Sozialdemokrat Schulz und der Bürgerliche Juncker sollten Europa ein Gesicht geben und die Anonymität des Brüsseler Politikbetriebs aufheben. Alles umsonst. Der frühere russische Ministerpräsident Tschernomyrdin sagte in der turbulenten Ära Jelzin einmal: «Wir wollten alles besser machen, aber es endete wie immer.» Dieser Satz gilt auch für den Urnengang 2014, und er ist eine ziemliche Blamage für alle, die sich ein «Europa zum Anfassen» wünschen. Das ernüchternde Ergebnis relativiert auch den Anspruch des Parlaments, dass einer der beiden Spitzenkandidaten zum Kommissionspräsidenten ernannt werden müsse. Wenn das Europaparlament den Europäern auch weiterhin so offenkundig egal ist, können die Staats- und Regierungschefs ruhig wie gehabt die Spitzenpositionen auskungeln.
Beide Mechanismen – der Protest aus Geringschätzung und die Dominanz des Nationalen – sind auch von früheren EU-Wahlen bekannt. Genau hierin besteht indes die erste Niederlage der Europa-Freunde. Diese hatten 2014 grossen Aufwand betrieben, um die für die Bedeutung des Europaparlaments wenig schmeichelhaften Gesetzmässigkeiten zu durchbrechen. So einigten sich die Fraktionen auf Spitzenkandidaten und liessen diese in TV-Duellen gegeneinander antreten. Der Sozialdemokrat Schulz und der Bürgerliche Juncker sollten Europa ein Gesicht geben und die Anonymität des Brüsseler Politikbetriebs aufheben. Alles umsonst. Der frühere russische Ministerpräsident Tschernomyrdin sagte in der turbulenten Ära Jelzin einmal: «Wir wollten alles besser machen, aber es endete wie immer.» Dieser Satz gilt auch für den Urnengang 2014, und er ist eine ziemliche Blamage für alle, die sich ein «Europa zum Anfassen» wünschen. Das ernüchternde Ergebnis relativiert auch den Anspruch des Parlaments, dass einer der beiden Spitzenkandidaten zum Kommissionspräsidenten ernannt werden müsse. Wenn das Europaparlament den Europäern auch weiterhin so offenkundig egal ist, können die Staats- und Regierungschefs ruhig wie gehabt die Spitzenpositionen auskungeln.
Die
«Anti-Fraktion»
Knapp ein Drittel der Sitze geht an die ebenso heterogene
wie fundamentalistische «Anti-Fraktion», die von respektablen EU-Skeptikern
über unbekümmerte Populisten bis hin zu gewaltbereiten Radikalen reicht. Im
alten Europaparlament lag ihr Anteil noch bei gut einem Fünftel. Auch hier kann man sich mit der Feststellung beruhigen, dass die etablierten
Parteifamilien noch immer das Gros der Abgeordneten in der in Brüssel wie Strassburg tagenden
Volksvertretung stellen. Dass aber eine Partei wie der Front national, der vor nicht allzu langer
Zeit noch ein Aussenseiterdasein fristete, in einem Kernland der Union zur stärksten Formation aufsteigen
kann – und sei es «nur» bei der Europawahl –, verrät eine mehr als nur
vorübergehende Unzufriedenheit mit dem politischen Establishment. Dieser Unmut
verschwindet auch nicht, wenn er sich bei nationalen Urnengängen durch
Besonderheiten des Wahlrechts wie in Grossbritannien nicht entsprechend in
Mandaten niederschlägt.
Die Europawahl ist vielleicht ein Seismograf für Entwicklungen,
die auf nationaler Ebene eine längere Inkubationszeit benötigen. Jedenfalls
lässt sich nicht mehr gänzlich ausschliessen, dass der Front national oder die
Ukip eines Tages auch der nationalen Politik ihren Stempel aufzudrücken
vermögen. Das hätte gravierende Folgen für Frankreich wie Grossbritannien, aber
eben auch für die EU, die in besonderer Weise von diesen Ländern mitgestaltet wird.
Zumal auch in anderen Staaten Populisten vom rechten wie linken Rand an die
Spitze katapultiert wurden oder den traditionellen Parteien zumindest klare
Verluste zufügten. Das Nachdenken über die längerfristigen Auswirkungen ist
Spekulation, ein Spiel mit Möglichkeiten und Mehrheiten. Wer aber hätte vor
zehn Jahren diesen Aufstieg des Front national oder den Abstieg der deutschen
FDP zur Splittergruppe vorausgesagt?
Brüsseler
Gespenster
Die Bürger haben ziemlich deutlich gemacht, dass sie ein
längeres Gedächtnis besitzen als viele Politiker. Sie vertrauen den
beruhigenden Versicherungen nicht, wonach die Euro-Krise bereits überwunden sei.
Sie wissen die Fakten auf ihrer Seite, denn keines der grundlegenden Probleme
wie etwa die wirtschaftlichen Ungleichgewichte konnte bisher gelöst werden.
Alle Anläufe für umfassende Reformen der Währungszone versandeten. Ministerrat,
Kommission und Parlament werden sich jedoch nicht beirren lassen und an ihrem
durchaus erfolgreichen Kurs der kleinen Schritte und technischen Verbesserungen
festhalten. Durch ein entschlossenes «Weiter so» werden sie die Gespenster zu
vertreiben suchen – getreulich der Devise, dass nicht existiert, was man nur ausdauernd
ignoriert. Voraussetzung hierfür allerdings ist auch, dass nicht das Gift des
Zweifels zu wirken beginnt. Die Wahl hat gezeigt, dass das Fundament der
Europapolitik brüchiger ist, als die routinierten Gesundbeter des Status quo
glauben machen wollen.
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