
Heft 1 Seite 133
verfasst von Theo Wirth
Eine merkwürdige
Diskrepanz ist festzustellen.
Einerseits boomt der Lateinunterricht seit
Jahren wieder, besonders in Deutschland, wo seit 2001 die Gesamtzahl der Schülerinnen
und Schüler um mehr als 30% auf über 830.000 im Schuljahr 2008/09 angestiegen
ist und nur von der Zahl der Englisch- und Französischschüler übertroffen
wird. Er boomt teilweise auch in der Schweiz, wie z. B. im Kanton Zürich, wo
sich die Schülerzahl im vorletzten und letzten Schuljahr um über 25% erhöht
hat, und in einigen Kantonen haben sich die Kantonsregierungen bzw. die
kantonalen Verwaltungen klar zum altsprachlichen Unterricht bekannt oder
bereits konkrete Maßnahmen getroffen.
Doch andererseits gibt es einflussreiche
Personen, die mit einem erstaunlichen Eifer das Fach bekämpfen und dabei auch höchst
zweifelhafte Begründungen ins Feld führen.
Der Popanz des "logischen Lateins"
Zu diesen
Personen gehört seit Jahren Elsbeth Stern, Professorin für Lehr- und
Lernforschung an der ETH, der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich
(davor: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin).
Sie tritt an
Elternabenden auf, sie äußert sich im Internet und in Publikationen, u. a. im „SPIEGEL
Wissen“ 3/2010 oder in der Kinderausgabe (!) „Dein SPIEGEL“ 12/2010; und wie
Pilze nach einem Sommerregen sprossen Online-Lateingegner hervor, die die Stern’schen
Behauptungen kritiklos weitertrugen und mit ihnen das definitive Begräbnis des
Lateins einforderten.
Immer „beweist“ Stern die Nutzlosigkeit des „Lateins“
mit dem Hinweis auf ihre Untersuchungen, in denen sie (mit Ludwig Haag) gezeigt
habe, dass Latein weder, wie behauptet werde, das logische Denken fördere (Haag / Stern 2000, vgl.
das Literaturverzeichnis) noch den Fremdsprachenerwerb erleichtere (Haag / Stern
2003).
Dass ihr oberster Chef an der ETH im Lateinunterricht einen erheblichen
Nutzen sieht, scheint ihr kein Anlass zum Nachdenken zu sein: In einem
Interview (Züricher „Tages-Anzeiger“ vom 5.9.08) zu den Gründen der hohen
Durchfallquoten bei den ersten Zwischenprüfungen erwähnte der ETH-Präsident Ralph Eichler die
unzureichende Beherrschung des Deutschen und ergänzte: „Wer Latein oder
Griechisch hatte, ist oft auch an der ETH gut. Deshalb muss die nächste
Maturareform die Kompetenz einer exakten Sprache stärker gewichten.“
Eine
grundsätzliche Bemerkung, bevor ich mich den beiden Gegenargumenten Sterns zuwende.
1 Schon rein sachlich ist es völlig
abwegig und unzulässig, Latein bloß aus den genannten beiden Gründen als
nutzlos abzutun: Jeder Lateinbefürworter weiß, dass es viel wichtigere Begründungen
gibt, allerdings auch anspruchsvollere, die man nicht so leicht als Schlagworte
missbrauchen kann. Über solche Begründungen zu sprechen, ist hier nicht der
Ort; immerhin ist zu berichten, dass Stern vor Zeiten selber weiter
gedacht hat.
Auf die Frage, ob als Konsequenz ihrer Untersuchungen das Latein
am Gymnasium abgeschafft werden sollte, lehnte sie dies dezidiert ab, denn
Latein vermittle ein sprachliches Metaverständnis besser als eine lebendige
Sprache und sollte deshalb seinen Platz an den Gymnasien behalten.
2 Doch die Zeiten solcher
Einsicht scheinen vorbei zu sein, jetzt lässt sich Stern im SPIEGEL für
Kinder zitieren mit dem apodiktischen Satz „Latein lernen bringt nichts.“
Nun zum
ersten Argument der Lateingegner.
Die von ihnen bekämpfte Behauptung von
Lateinbefürwortern, wonach Latein – einfach so, als Sprache – das logische
Denken schule, kann man jedoch nur noch selten hören (zum Glück): Den meisten
ist nämlich klar, dass die Behauptung in dieser platten, verkürzten Form den
wahren Sachverhalt verfälscht; doch eignet sich eine solche Verkürzung natürlich
gut als Popanz, den man aufbaut, damit man gegen ihn losziehen kann.
Wenn also
manche Latein-Fachleute von „Denkschulung“ sprechen, dann meinen sie erstens
nicht einfach das „Latein“, sondern den Lateinunterricht, in welchem – sofern
er gut ist – stringentes Denken, Sprechen und Schreiben v. a. beim Übersetzen
ins Deutsche geübt wird; aus diesem Grund ist in gewissen Berliner Gymnasien
mit einem Migrantenkinder-Anteil von bis zu 80% das Fach Latein derart en
vogue: Mehr als 60% wählen es, weil sie selber erleben, dass die Art des
Lateinunterrichts ihr Deutsch fördert.3
Zweitens verstehen besagte Fachleute
unter „logischem Denken“ nicht die klassische Logik als übersprachlich gültige
Wissenschaft vom richtigen Denken, mit logischen Schlüssen etc., sondern eine „Sprachlogik“,
nämlich die differenzierte Form der lateinischen Literatursprache.
1 Dieser
Beitrag gibt in überarbeiteter und stark gekürzter Form ein Referat wieder, das
in einem Arbeitskreis des DAV-Kongresses 2010 gehalten worden ist. Titel des
Arbeitskreises: „Latein nützt nichts – oder nützt es doch? (1) Zu Transfer und
Zusammenarbeit zwischen Latein und den anderen Sprachfächern“.
2
www.educ.ethz.ch/ls/index, vom 9.9.2008.
3 Vgl. Kipf (2010), 186.
Hier liegt der Hund begraben; die Lateingegner sind nämlich zu Opfern einer Äquivokation
geworden wie dieser Begriff in der klassischen Logik heißt: Die – leider fragwürdige
und missverständliche - Benennung als [Sprach-]„Logik“ wird von den
Lateingegnern nicht als Äquivokation erkannt, sondern sie missverstehen diese „Logik“
als Logik im ursprünglichen Sinn.Die Folge:
Sie führen, wie Haag/Stern, sog. wissenschaftliche Untersuchungen durch, in denen sie ehemaligen „Lateinern“ bzw. „Nichtlateinern“ z. B. klassische logische Schlüsse, Syllogismen, vorsetzen etwa vom Typ „Alle grünen Dosen sind groß. Alle großen Dosen sind rund.“ Und die Probanden müssen dann unter fünf vorgegebenen Antwortmöglichkeiten die eine richtige finden, ich zitiere eine (falsche) Beispielsantwort aus den fünfen: „Keine grüne Dose ist rund.",
Dass bei solchem Treiben die „Lateiner“ nicht besser abschneiden als ihre Kollegen, ist „logisch".
Syllogismen zu schulen gehört in keinen Sprachunterricht, auch nicht in den lateinischen. Doch Stern und ihre KollegInnen erkennen nicht, dass sie etwas ganz anderes untersuchen, als sie meinen. Ihre Arbeiten zum „logischen Latein“ sind daher wertlos – aber sie richten deshalb nicht weniger Schaden an, denn wer unter den Lesern und Hörern weiß schon, wie die Wirklichkeit hinter der irrigen „Beweisführung" aussieht.5
"Latein hat keinen Effekt auf das Lernen von anderen Sprachen wie beispielweise Spanisch"
6_
Dieser Satz
von Stern, eine ihrer Formulierungen des zweiten Gegenarguments
gegen Latein, kann als Fazit einer anderen Untersuchung gelten, die sie und Haag mit 50
Testpersonen durchgeführt haben: mit je 25 Studentinnen, die an deutschen
Gymnasien Latein bzw. Französisch gelernt hatten und nun nach einem Semester
Spanischkurs an der Universität eine Deutsch-Spanisch-Übersetzung von 150 Wörtern
anfertigen mussten.
Ergebnis: „Participants who had
learned French at school made markedly fewer grammar errors and slightly fewer
vocabulary errors in the Spanish test than participants who had learned Latin.“7 Westphalen hat gezeigt, dass diese studentischen Fehler fast
ausnahmslos gar nicht mit Übertragungsfehlern aus dem
lateinischen Sprachwissen erklärt werden können.8
Umso unverfrorener klingt der direkt nachfolgende Satz: „Knowledge of
Latin is probably not an optimal preparation for modern language learning.“9 Diese Verallgemeinerung ist methodisch in keiner Weise
erlaubt. Das ist nun zu belegen.
4 Haag / Stern (2000), 150.
5 Diese
knappe zusammenfassende Kritik des ersten Arguments der Lateingegner wird im „Forum
Classicum“ 4/2010 genauer dargestellt und begründet – samt dem neckischen
Detail, dass im oben genannten Dosenbeispiel den Autoren Haag / Stern selber ein
logischer Fehler unterläuft.
6
www.educ.ethz.ch/ls/index, vom 9.9.2008.
7 Haag / Stern (2003), 174.
Beginnen wir
mit schlichten Lebenserfahrungen.
Eine ETH-Studentin, die einen längeren
Aufenthalt in Südamerika verbrachte, schrieb: „Ich habe vorgängig ein wenig
mit einem Buch [Spanisch] gelernt (während 5 Wochen an je 3 Tagen pro Woche).
In der Schule [in Südamerika] konnten sie es kaum glauben, dass ich es mit
einem Buch in dieser kurzen Zeit so weit gebracht hatte. Meiner Meinung nach
halfen mir die Alten Sprachen insofern, dass ich ein ganz anderes Verständnis
und einen anderen Zugang zu Sprachen habe. Im Altsprachenunterricht lernt man,
wie eine Sprache funktioniert, wie sie aufgebaut ist, lernt Strukturen
analysieren und erkennen. Die ganze Sprachstruktur hat man schon im Kopf und
muss dann beim Erlernen einer neuen Sprache diese Strukturen nur noch mit den
betreffenden Ausdrücken füllen. Das Verständnis ist bereits vorhanden.“ Ähnliches
berichtet eine ältere Frau: „Ich habe schon in der Schule gerne Latein
gemacht. Später, als ich viel im Ausland war, hat es mir geholfen, andere
Sprachen zu lernen, sogar in Indien beim Hindi. Es ist wie ein Gerüst, in das
man alle Sprachen reinfüllen kann.“ Eine Schweizer Hispanistin, eine bekannte Übersetzerin,
erzählt, wie ihr das Latein das Erlernen des Spanischen erleichtert hat. Eine
Psychologiestudentin erlebte Entsprechendes im Italienischunterricht, „und zwar
viele Jahre, nachdem ich keinen Lateinunterricht mehr hatte. Während andere über
die Grammatik stöhnten, schien mir diese plausibel und logisch.“ Solche Stimmen
ließen sich beliebig vermehren. Und nebenbei: In diesen Erfahrungen von Schweizerinnen
ist Französisch als Lernhilfe überhaupt nie erwähnt worden, das ist angesichts
der an deutschen Gymnasien durchgeführten Studie aufschlussreich und macht
diese noch fragwürdiger: Alle hatten das in der Schweiz fast überall
obligatorische Französisch neben dem Lateinischen besucht.
Krasser könnte
die Unvereinbarkeit des Resultats von Haag/Stern mit diesen
Lebenserfahrungen nicht sein. Wenn man nicht die eine Seite von vorneherein
als falsch bezeichnen will, dann gibt es nur eine Lösung: Die beiden Positionen
beziehen sich gar nicht auf denselben Gegenstand!
Mit dem Wort „Latein“ sind
divergierende Dinge gemeint und bezeichnet – offenbar eine zweite Äquivokation.
8 Westphalen (2003), 6.
9 Haag / Stern (2003), 174.
Setzen wir
hier an.
Schaut man genauer hin, so erkennt man, dass in der Tat eine
Gleichsetzung, eine Nichtunterscheidung von Latein als Sprache und
Latein als Unterricht der Sprache Latein vorliegt.
Sprechen wir demzufolge
von nun an nicht von Latein, sondern von Lateinunterricht. Diese neue
Formulierung führt zu einer Erkenntnis: Latein als Sprache darf man zwar als überall
gleich ansehen (laudavi und laudabam ist in allen Gymnasien
gleich) – nicht aber den Unterricht!
Hier begehen Stern und alle ähnlich
argumentierenden Psychologen (!!!) einen methodischen Grundfehler, der m. W. noch
nirgends wirklich dingfest gemacht worden ist:
Für diese ForscherInnen ist
auch der Lateinunterricht (LU) eine fixe Größe; sie nehmen etwa
Folgendes einfach an: „Was für die besagte Gruppe in der Studie LU ist bzw.
war, ist für alle Schüler und überall derselbe LU“.
Das verrät ganz deutlich
der oben zitierte Satz „Knowledge of Latin is probably not an optimal
preparation for modern language learning“: Wie leichthin ist aus dem
vorangegangenen ersten Satz die Generalisierung dieses zweiten Satzes
entstanden!
Logisch betrachtet: Wir haben einen klassischen Induktionsschluss
vor uns: Schluss vom Einzelfall auf sämtliche Fälle. Genau in dieser
Generalisierung liegt der entscheidende, unbeachtete Fehler: Der Induktionsschluss
ist hier nicht erlaubt, denn im Unterschied zu Latein als Sprache ist jeder
Unterricht in Latein in jeder Klasse anders. (N.B.: Latein kann hier mit
irgendeinem anderen Fach verglichen werden, z. B. mit Mathematik: Auch diese
ist überall dieselbe, aber jeder von uns weiß, wie unterschiedlich auch hier
der Unterricht im Einzelnen ist.) Angewendet auf die zitierten Lebenserfahrungen:
Die ETH-Studentin und alle anderen hatten einen jeweils unterschiedlichen
altsprachlichen Unterricht erlebt, und dieser differierte offensichtlich von
dem der Stern-Gruppe. Worin?
In ihrem
Unterricht war der „Transfer“, der nun hier zum Thema wird, in irgendeiner Form
gegenwärtig, etwa durch immer neues Vergleichen von Latein zumindest mit
bekannten Schulsprachen (Deutsch, Französisch, Englisch) und damit durch
Aufzeigen von Gleichheiten, aber auch von Verschiedenheiten. Oder der Transfer
wurde vorbereitet, indem die Funktionen hinter den sprachlichen Formen deutlich
herausgearbeitet, verständlich gemacht und gelernt wurden und damit sich als übertragbar
erweisen konnten, wenn in einer anderen Sprache ähnliche oder gleiche
Funktionen, aber mit anderen Formen zu lernen waren. Denn genau so wird der von Stern
und
anderen bestrittene Transfer möglich, wie eines von vielen Beispielen erläutern
soll.
Viele Sprachen erzählen anders als Deutsch
In den
meisten indogermanischen Sprachen gibt es innerhalb der Vergangenheitsformen
eine Differenzierung, die im Deutschen nicht mehr vorhanden und deshalb für
uns schwierig zu begreifen ist: in Erzählungen einerseits die schlichte
Ereigniskette, im Lateinischen im Perfekt, andererseits die „Kulisse“ dafür,
die umgebenden Sachverhalte, im Lateinischen im Imperfekt. Man nennt diese
Funktionen „Aspekte“, weil der Sprecher die Möglichkeit hat, seiner „Anschauung“
entsprechend das Geschehen bzw. die Szenerie zu gestalten. Latein erzählt, wie
ein gescheiter Schüler formulierte, „stereo“, Deutsch bloß „mono“, weil in der
deutschen Hochsprache unterschiedslos das Präteritum verwendet wird.
Und hier
kommt es nun ganz auf die Art des Lateinunterrichts an. Der eine Lehrer etwa führt
einfach die Formen von laudavi (Perfekt) und laudabam (Imperfekt)
ein und sagt: „Die Lateiner haben zwar zwei Vergangenheitszeiten, aber für die
Übersetzung wählt ihr einfach aus, was euch besser scheint: ich habe gelobt oder
ich lobte.“ Schluss und basta, und das nächste Thema kommt – eine
angesichts der heutzutage wenigen Lateinstunden beinahe begreifliche Kürze der
Behandlung. Doch dann haben wir eben jenen dürftigen Unterricht, wie er in
einem der oben erwähnten, auf Sterns SPIEGEL-Text basierenden Online-Artikel beklagt wird: „Beim
Lernen von Latein ist es das ausschließliche Ziel, Texte zu verstehen und in
seine Muttersprache zu übersetzen. Der Unterricht konzentriert sich auf die Vermittlung
der Grammatik, der Vokabeln und aufs Übersetzen ins Deutsche. Das Lernen ist
fokussiert auf das stumpfe Pauken von Vokabellisten und Grammatikregeln.“10
Nun aber zum
anderen Lehrer. Er nimmt die Behauptung ernst, der Lateinunterricht fördere
die Bildung, und zeigt, wie verschieden die Sprachen die Welt fassen: Er führt
den Begriff des Aspekts ein und lässt die Schüler erkennen, dass es im
Deutschen völlig anders läuft. Zu guter Letzt führt er über die verständliche
erste Schülerreaktion des „Delirant isti Romani“ hinaus; die Schüler gelangen
zur Einsicht, dass die Aspektbeachtung eigentlich eine faszinierende Sache und
in vielen Sprachen wesentlich ist, in den Tochtersprachen des Lateins wie Französisch,
Spanisch und Italienisch, in den slawischen Sprachen, im Alt- und sogar
erweitert im Neugriechischen, in anderer Weise auch im Englischen (oder in den
semitischen Sprachen). Wenn immer möglich, tut er dies in Zusammenarbeit mit
den anderen Sprachlehrern.
Dieser zweite
Lehrer hat die Transferfähigkeiten geweckt, geschult und die Schüler dazu
gebracht, weitere Sprachen in derselben Weise zu durchschauen und damit
leichter und schneller zu lernen. Transfer wird in der Fachwelt etwa so
definiert: „Transfer bedeutet die Nutzung von früher erworbenem Wissen im
Hinblick auf neue Inhalte oder neue Situationen“; oder wie Stern schreibt: „Der
größte Lernfortschritt kann erwartet werden, wenn die gestellten Aufgaben neu
sind, aber auf der Grundlage des verfügbaren Wissens gelöst werden können“11.
Genau eine solche Situation
haben wir vor uns, wenn die letztgenannten Schüler etwa im Französisch- oder
Spanischunterricht mit den Aspekten konfrontiert werden: Die Funktionen sind
ihnen vom Latein her vertraut, sie können sie anhand der neuen Formen erkennen
und brauchen nur noch diese zu lernen. Es kann auch Russisch sein: Ein
ehemaliger Lateinschüler und heutiger Russischstudent schreibt: „Die Verben und
ihre Aspekte bereiten mir keine Mühe, das Lernen des Vokabulars hingegen ist
zeitaufwendig.“ Es ist also genau nicht so, wie Stern nicht müde
wird zu behaupten, dass man mit Latein nichts außer Latein lernen könne. –
Summa summarum: Die methodischen Mängel machen auch diese Untersuchung
unbrauchbar.
Aufbau ist nötig, nicht Abriss
Aber um einen solchen Latein- und Sprachunterricht zu evaluieren, bräuchte es viel entwickeltere Untersuchungen als die von Haag / Stern und anderen Lateingegnern.
Aufbau ist nötig, nicht Abriss
Aber um einen solchen Latein- und Sprachunterricht zu evaluieren, bräuchte es viel entwickeltere Untersuchungen als die von Haag / Stern und anderen Lateingegnern.
Die methodische Schwäche besteht ja insbesondere darin, dass aus
der Vielzahl der Variablen die entscheidenden nicht erkannt und deshalb nicht
berücksichtigt worden sind. Denn ein bloßer Übersetzungstest Deutsch-Spanisch
evaluiert natürlich nicht, welches Sprachverständnis vorhanden ist, z. B. das
Verständnis der Aspekte; der Übersetzungstest sagt nicht aus, ob der
Spracherwerb leichter oder mühsamer stattgefunden hat, wie leicht jemand in
eigenem Tun eine Sprache sich erwirbt, wie schnell der Erwerb irgendeiner
Sprache vonstatten geht, sei es Spanisch oder Russisch oder auch eine
nichtindogermanische Sprache.
An den Gymnasien ist heutzutage eines vonnöten: fächerübergreifende Zusammenarbeit
der Sprachfächer, um die Muttersprache und den Erwerb von Fremdsprachen zu fördern.
Die Mehrsprachigkeitsdidaktik, die heute in aller Munde ist, hat hier ihr
Arbeitsfeld. Und hierin kann der Lateinunterricht (nach wie vor spreche ich nur
von einem seiner Bereiche, dem Sprachunterricht) seine unverwechselbare Rolle
spielen: Gerade weil er als einziger Sprachunterricht nicht auf die
Kommunikationsfähigkeit der Schüler in der betreffenden Sprache abzielen muss,
soll er im Dienste aller Sprachfächer und in Zusammenarbeit mit ihnen die „nützlichen“,
da transferierbaren Hintergründe aufzeigen. Es geht um eine Art „Entbabylonisierung“
der Sprachen, um die Förderung eines grundlegenden und sprachübergreifenden
Verständnisses, das jeden Fremdsprachenerwerb erleichtert. Heute trägt dieses
Verständnis den Namen „sprachliche Allgemeinbildung“, mit teilweise sehr neuen
Inhalten. Hier gäbe es viel zu sagen.
Aber
um einen solchen Latein- und Sprachunterricht zu evaluieren, bräuchte es viel
entwickeltere Untersuchungen als die von Haag / Stern und anderen
Lateingegnern. Die methodische Schwäche besteht ja insbesondere darin, dass aus
der Vielzahl der Variablen die entscheidenden nicht erkannt und deshalb nicht
berücksichtigt worden sind. Denn ein bloßer Übersetzungstest Deutsch-Spanisch
evaluiert natürlich nicht, welches Sprachverständnis vorhanden ist, z. B. das
Verständnis der Aspekte; der Übersetzungstest sagt nicht aus, ob der
Spracherwerb leichter oder mühsamer stattgefunden hat, wie leicht jemand in
eigenem Tun eine Sprache sich erwirbt, wie schnell der Erwerb irgendeiner
Sprache vonstatten geht, sei es Spanisch oder Russisch oder auch eine
nichtindogermanische Sprache.
Dr. Theo Wirth
ehem. Fachdidaktiker Alte Sprachen
Univ. Zürich
thwirth@cheironos.ch
Literaturverzeichnis
Haag, Ludwig / Stern, Elsbeth:
Non scholae sed vitae discimus? Auf der Suche nach globalen und spezifischen
Transfereffekten des Lateinunterrichts, in: Zeitschrift für Pädagogische
Psychologie 2000, 14, 146–157 (Zwischenbericht in: AU 4+5/2000, 86–89).
Haag, Ludwig/Stern, Elsbeth: In
Search of the Benefits of Learning Latin, in: Journal of Educational
Psychology, 2003, 95, No. 1, 174–178.
Kipf, Stefan:
Integration durch Bildung – Schülerinnen und Schüler nicht-deutscher
Herkunftssprache lernen Latein, in: Forum Classicum 3/2010, 181–197.
Stern, Elsbeth:
Lernen – Was wissen wir über erfolgreiches Lernen in der Schule?, in: Pädagogik
2006, 58 (1), 45–49.
Westphalen, Klaus:
Latein oder Französisch? Überlegungen zum Bildungswert der zweiten
Fremdsprache – Replik auf eine empirische Untersuchung, in: Forum Classicum
1/2003, 3–11.
=
www.altphilologenverband.de/forumclassicum/pdf/FC2003-1.pdf
Wirth / Theo: Die
leidige Sache mit dem „logischen“ Latein, in: Forum Classicum 4/2010, 272–274.