Einen Strafbefehl erhalten – und jetzt?
Gegen falsche Verurteilungen wegen eines rechtsstaatlich
umstrittenen Strafbefehls helfen Einsprachen.
NZZ vom Montag, den 18.11.2018
von Kenad Melunovic Marini
Ausser bei Verkehrsdelikten sind Strafbefehle von
Staatsanwälten in vielen Fällen fragwürdig.
Der Erlass von Strafbefehlen ist ein Massengeschäft.
Ausserhalb von Bagatelldelikten leidet dabei meist die Abklärung des Sachverhalts.
Eine Einsprache lohnt sich auf jeden Fall, und in gewissen Fällen ist es
ratsam, einen Rechtsanwalt beizuziehen.
Seit dem Inkrafttreten der Schweizerischen
Strafprozessordnung im Januar 2011 werden über neunzig Prozent aller
Strafverfahren in der Schweiz im sogenannten Strafbefehlsverfahren erledigt.
Der Strafbefehl wird jedoch nicht von einem Gericht, sondern von der
Staatsanwaltschaft erlassen und hat die gleichen Wirkungen wie eine
Verurteilung. Der «Urteilsvorschlag» kann zwar mit einer einfachen Einsprache
abgelehnt werden, oft verstehen die Bestraften den Inhalt und insbesondere die
Tragweite aber nicht oder schrecken vor möglichen Kosten zurück. Dieser Beitrag
soll zum Verständnis beitragen und etwas Klarheit schaffen.
Die Schweizerische Strafprozessordnung sieht vor, dass –
bedingte oder unbedingte – Freiheitsstrafen von bis zu sechs Monaten nicht von
einem Richter, sondern von der Staatsanwaltschaft ausgesprochen werden können.
Sinn und Zweck des Strafbefehlsverfahrens ist die möglichst rasche und
kostengünstige Bewältigung grosser Fallzahlen. Während diese Ausgestaltung der
Kompetenzen im Bereich von Massendelikten auf den ersten Blick unproblematisch
erscheint – zu denken ist insbesondere an Verletzungen von
Strassenverkehrsvorschriften –, stösst der Strafbefehl in allen anderen Fällen
in mancher Hinsicht an seine rechtsstaatliche Tauglichkeitsgrenze und liegt bei
genauerer Betrachtung höchst selten im Interesse der beschuldigten Person.
Rechtsstaatlich bedenklich ist insbesondere, dass sich beim Strafbefehl der
Staatsanwalt und damit die Exekutivbehörde in der Rolle des unabhängigen
Richters befindet. Noch schwerer wiegt jedoch der Mangel, dass sich Effizienz
und Kostenschlankheit im Strafbefehlsverfahren zulasten der Objektivität und
letztlich der «Wahrheit» auswirken.
Ein Strafbefehl kann richtig und kostengünstig sein, nur:
Das ist er selten. Strafbefehle sind ein Massengeschäft. Handelt es sich nicht
um ein Bagatell- oder weitgehend standardisiertes Verkehrs- oder leichtes
Betäubungsmitteldelikt, haften den Strafbefehlen daher häufig Fehler an, deren
Ursache – systembedingt – eine ungenügende Abklärung des Einzelfalls und damit
des rechtserheblichen Sachverhalts ist. Die Folge ist: Es wird bestraft, wer
bei genauem Hinschauen nicht bestraft würde. Um der geforderten Effizienz
Genüge zu tun, wird insbesondere häufig auf eine Einvernahme (Anhörung) der zu
bestrafenden Person verzichtet; weder zum Vorwurf noch zur Person. Erhebt die
beschuldigte Person keine Einsprache, wird der staatsanwaltschaftliche
«Versuchsballon» zum rechtskräftigen Urteil.
Der Bürger versteht oft nicht
Eine Aufklärung über den Inhalt des Strafbefehls und die
Folgen eines Einspracheverzichts oder eine ausdrückliche Anerkennung des im
Strafbefehl umschriebenen Sachverhalts durch die zu bestrafende Person ist
nicht erforderlich. Diese Zustimmungsfiktion bei Ausbleiben einer Einsprache
ist mit Blick auf den Grundsatz, dass Strafe nur Ultima Ratio staatlichen
Handelns gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern sein sollte, problematisch.
Gerade wenn man bedenkt, dass Strafbefehle in juristischer Sprache abgefasst
sind und die Folgen meist nicht genannt werden. Nicht erwähnt wird etwa, dass
der rechtskräftige Strafbefehl zu einem Eintrag im Strafregister führt, soweit
damit nicht nur eine Busse ausgesprochen wird. Die zu bestrafende Person kann
zwar Einsprache erheben, ohne diese begründen zu müssen, die Zustimmungsfiktion
ist dennoch stossend, da der Strafbefehl oft per Post zugestellt wird und
abgesehen von der eigentlichen Strafe regelmässig die Grundlage für
verwaltungsrechtliche Massnahmen (zum Beispiel Administrativmassnahmen im
Strassenverkehrsrecht) und/oder zivilrechtliche Ansprüche (Schadenersatz,
Genugtuung) bildet, an welche die Behörden gebunden sind.
Wird der Strafbefehl nicht fristgerecht bei der Post
abgeholt, gilt er trotzdem als zugestellt und bei fehlender Einsprache, etwa
infolge Ferienabwesenheit, kann es geschehen, dass eine Strafe rechtskräftig
wird und im Strafregister eingetragen wird, ohne dass der Bestrafte überhaupt
davon erfahren hat oder sich wehren konnte. Selbst wenn der Inhalt des
Strafbefehls verstanden und dessen Tragweite richtig erkannt wird, verzichtet
eine grosse Mehrzahl der Bestraften auf eine Einsprache. Sie gehen
fälschlicherweise davon aus, mit der stillen Annahme des Strafbefehls könne
Geld und Zeit gespart werden. Eine Einsprache aber kostet nichts und kann in
der Regel später zurückgezogen werden, ohne dass weitere Kosten anfallen.
Wann braucht es den Anwalt?
Wurde ein Strafbefehl zugestellt, ohne dass die zu
bestrafende Person je die Gelegenheit hatte, sich zum Vorwurf oder zu den
Umständen zu äussern, sollte zwingend umgehend Einsprache erhoben werden. Mit
der Einsprache erklärt die beschuldigte Person, dass sie mit dem «Urteilsvorschlag»
der Staatsanwaltschaft nicht einverstanden ist. Dafür braucht es keinen Anwalt,
und es genügt der Satz «Ich erhebe Einsprache». Die Einsprache muss also nicht
begründet werden und führt zunächst nur dazu, dass die Staatsanwaltschaft
weitere Beweise erhebt, die zur Beurteilung der Einsprache erforderlich sind.
Die Staatsanwaltschaft wird in der Regel eine Einvernahme ansetzen, an welcher
der Einsprecher sowohl zu den Gründen seiner Einsprache als auch zur Sache und
Person befragt wird.
Wenn es sich nicht um eine klare Bagatellsache handelt,
sollte sich der Betroffene spätestens zum Zeitpunkt, in welchem zur Einvernahme
vorgeladen wird, von einer Rechtsanwältin oder einem Rechtsanwalt über die
Erfolgsaussichten im konkreten Fall und das richtige Verhalten in der
Einvernahme beraten lassen. Für die Frage, ob es sich um eine Bagatellsache
handelt, ist die Strafart ein geeigneter Massstab. Wurde im Strafbefehl
ausschliesslich eine Busse ausgesprochen, handelt es sich um eine Bagatelle.
Die Busse wird auch nicht im Strafregister eingetragen, wenn sie den Betrag von
5000 Franken nicht übersteigt. Wird im Strafbefehl hingegen eine Geldstrafe
oder Freiheitsstrafe ausgesprochen, unabhängig davon, ob sie bedingt oder
unbedingt (vollziehbar) ausgesprochen wird, sollte eine rechtskundige Beratung
in Anspruch genommen werden. Der überschaubare finanzielle Aufwand für eine
erste Einschätzung dürfte sich in sehr vielen Fällen lohnen.
Kenad Melunovic Marini ist Partner der Anwaltskanzlei imkp
in Zürich und Fachanwalt SAV Strafrecht.