1918: Hat es den Dolchstoß gegeben?
Geschickt vermischt
Reinhard Müller in seinem Artikel „Als die Waffen schwiegen“ (F.A.Z. vom
09.11.2018) - siehe weiter unten - Sachverhalte, die grundsätzlich
völlig verschieden liegen, aber oberflächlich gesehen zusammenpassen.
«Gab es den „Dolchstoß“? Oder war er nur Legende?»
Diese Frage stellt
sich Müller, beantwortet sie aber keineswegs, denn er übergeht sie
spielerisch. Weiter unten wird darauf eingegangen.
Die
Dolchstoßlegende (auch Dolchstoßlüge) erschien als erstes in der Neuen
Zürcher Zeitung (NZZ) vom 17.12.1918: „Was die deutsche Armee betrifft,
so kann die allgemeine Ansicht in das Wort zusammengefasst werden: Sie
wurde von der Zivilbevölkerung von hinten erdolcht.“ Der namentlich
nicht genannte Autor nannte als Quelle den britischen General Sir
Frederick Maurice. Maurice habe dies zuvor in der britischen Zeitung
Daily News veröffentlicht. Dies stellte sich jedoch als falsch heraus
und wurde auch von Maurice dementiert. (Quelle: Wikipedia)
Es
hat keinen „Dolchstoß“ gegeben - denn, obschon die Menschen in
Deutschland - der Heimatfront - schwer an Hunger litten, die
kaiserlichen Truppen wurden an der Front in Frankreich vernichtend
geschlagen.
Konkret: Die deutschen Frühjahrsoffensive 1918
scheiterte. Am 8. Juli 1918 beginnt die alliierte Gegenoffensive
zwischen Marne und Aisne mit massiver Panzerunterstützung, der Einbruch
in die deutschen Linien gelingt: der Ablauf und Ausgang dieser Offensive
ist die endgültige Kriegswende. 13. bis 15. August 1918: Konferenz über
die Kriegslage im deutschen Großen Hauptquartier in Spa. Hoffnungen auf
einen militärischen Sieg sind nicht mehr vorhanden. Ende September
beginnt, eingeleitet durch die amerikanische Meuse-Argonne-Offensive der
Angriff auf die letzte deutsche Verteidigungslinie, mit deren Fall im
Oktober der Krieg für Deutschland verloren ist. Bereits am 29.09. - nach
dem alliierten Durchbruch durch die Siegfriedlinie - fordert die
Oberste Heeresleitung, die Aussichtslosigkeit der Lage erkennend, von
der Reichsregierung die sofortige Aufnahme von
Waffenstillstandsverhandlungen, verbunden mit dem Hinweis, dass die
Front jeden Tag zusammenbrechen könne. Schon lange vor dem
Waffenstillstand am 11.11. ist für viele deutsche Soldaten den Krieg
beendet, sie kehren der Front den Rücken und streben der Heimat zu:
Desertion in großer Zahl. Die Meuterei der deutschen Matrosen in
Wilhelmshaven und in Kiel ist der Auftakt der Novemberrevolution: die
Bildung von Soldaten- und Arbeiterräten, die Absetzung von Kaiser,
Königen und Herzögen sonder Zahl.
Leider gibt Müller keine
konkrete Antwort auf seine Frage «Gab es den „Dolchstoß“? - Oder war er
also nur Legende?» sondern weicht - meiner Meinung nach äußerst salopp -
aus, indem er auf die Zersetzungserscheinungen in der französischen
Armee und die fragliche Qualität britischer Generäle hinweist.
Sicherlich, die Soldaten auf beiden Seiten der Front waren kriegsmüde.
Aber die Dolchstoßlüge suggeriert etwas ganz anderes:
Die von
Hindenburg und Ludendorff kommandierte deutsche Armee - immer noch in
Frankreich stehend - „wurde von der Zivilbevölkerung von hinten
erdolcht“: die Armee des Kaisers war keineswegs geschlagen, sondern
musste kapitulieren, weil die deutschen Frauen und Männer an der
Heimatfront ihre Unterstützung versagten. Noch heute - 100 Jahre danach -
wird behauptet, dass die kaiserliche Armee den Krieg hätte gewinnen
können, Deutschland die Schmach von Versailles erspart geblieben wäre,
das deutsche Kaiserreich noch bestehen würde.
Der effektive Ablauf an der Westfront - wie oben skizziert - macht klar: es gab den „Dolchstoß“ nicht.
Aber damals - nach 1918, in der Weimarer Republik - wurde diese Lüge
von den revanchistischen Kräften - besiegte Offiziere der Reichswehr,
entmachtete, leider nicht enteignete Angehörige des Adels, Profiteure
des kaiserlichen Regimes, wie Industrielle und Großbürger, die mit
Adelstiteln geködert worden waren - als Fake News gegen die Bemühungen
der demokratischen Kräfte, wie die der SPD unter Friedrich Ebert
eingesetzt und hat zweifelsohne dazu beigetragen, dass die Weimarer
Republik dem Tode geweiht war.
Daher haben im Zweiten Weltkrieg
die Russen unter Stalin die Hauptstadt des Großdeutschen Reiches, Berlin
erobert und sind die Amerikaner in die hintersten Ecken einer nicht
existierenden Alpenfestung gefahren, haben die Truppen Frankreichs,
Großbritanniens, der USA und der Sowjetunion das Deutsche Reich
vollständig besetzt, und über Jahre besetzt gehalten, damit kein
Deutscher je wieder eine solche Mär auftischen kann.
"Als die Waffen schwiegen"
von Dr. Reinhard Müller in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Freitag, den 09.11.2018:
"In der Rückschau läuft alles oft auf Hitler zu: von Luther zu Hitler,
von Bismarck zu Hitler, von Wilhelm II. zu Hitler. Und war nicht die
Weimarer Republik von vornherein zum Scheitern verurteilt? Das war sie
nicht. Solche zwanghaften Zwangsläufigkeiten gibt es nur aus heutiger
Sicht. Bei allen interessanten Kontinuitäten: Die deutsche Geschichte
war damals so offen, wie sie es heute ist.
So auch bei der
Ausrufung der Republik vor hundert Jahren und beim Waffenstillstand zwei
Tage später, am 11. November 1918. Auch wenn die Nachgeborenen von zwei
verlorenen Weltkriegen sprechen, so waren diese beiden fürchterlichen
Großbrände grundverschieden, und so unterschiedlich war auch ihr Ende.
1918 war Deutschland zunächst nicht und später nur zu geringen Teilen
besetzt. Das Heer stand tief in Frankreich. Noch im Frühjahr ließ eine
Offensive Hoffnung auf einen Sieg aufkommen. Umgekehrt ist heute
weitgehend unbekannt, dass im Reich wegen der Blockade gehungert wurde.
Doch die Revolution ging von Soldaten aus, die sich nicht länger
verheizen lassen wollten. Die Matrosen meuterten, und das Volk schickte
seine Monarchen weg.
Das war eine große Umwälzung. Früher als in
manchen „älteren“ Demokratien erhielten Frauen das Wahlrecht. Es war
zugleich ein Neubeginn, der sich durchaus auf eine demokratische, eine
rechtsstaatliche Tradition stützen konnte – auf die der
Paulskirchenverfassung. Daran konnte Weimar anknüpfen mit einer
Verfassung, die echte Grundrechte gewährte und die so schlecht nicht
war, jedenfalls nur so gut sein konnte, wie sie mit Leben gefüllt wurde.
Immerhin war schon das Kaiserreich, wenn nicht nach gegenwärtigen
Maßstäben, so doch auf gewisse Weise ein demokratischer Rechtsstaat
gewesen. Vor allem war es eine Wirtschafts- und Wissenschaftsmacht von
Weltrang. So startete die junge Republik mit großen Erwartungen und mit
Belastungen, die aus dem Krieg herrührten.
Gab es den
„Dolchstoß“? Oder war er nur Legende?
Auch Friedrich Ebert versicherte
den heimkehrenden Soldaten freilich, dass kein Feind sie besiegt habe.
Das Gefühl, die kämpfende Truppe sei „verraten“ worden, war nicht nur in
Deutschland verbreitet. „The Donkeys“ nannte der britische Historiker
und Politiker Alan Clark sein Buch über die britischen Generäle im
Ersten Weltkrieg – die Esel. In Frankreich wurde Stanley Kubricks
eindringlicher Spielfilm „Paths of Glory“ von 1957, der das Verheizen
und Hinrichten französischer Soldaten durch die eigenen Offiziere im
Ersten Weltkrieg thematisiert, erst 1975 gezeigt.
In Deutschland
beschloss der verwundete Soldat Adolf Hitler, Politiker zu werden, wie
er das später darstellte. Authentisch war jedenfalls die Erfahrung des
Krieges, die er mit Millionen teilte. Wie konnte es geschehen, dass
viele der Veteranen, die das Schlachten überlebt hatten, bald wieder die
Waffen in die Hand nahmen, zunächst in paramilitärischen Verbänden auf
den Straßen der jungen Republik? Wie war es möglich, dass sie in einen
noch größeren Krieg zogen und halfen, einen Völkermord möglich zu
machen? Ob aus Zwang, überkommenem Pflichtgefühl oder aus Überzeugung:
sie marschierten in einen noch schrecklicheren Krieg mit noch mehr
Opfern. Die Völker der Welt reagierten darauf mit der Gründung der
Vereinten Nationen und der Ächtung des Krieges; aber einen dauerhaften,
die Welt umspannenden Frieden gibt es nicht.
Ist der Schoß noch
fruchtbar? Diese Frage stellt sich heute wieder. Offenbar darf die
allgemeine Fähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, nicht überschätzt
werden. Dazu muss man sie freilich erst einmal kennen. Parallelen zu
damals scheinen immer wieder auf, wenn auch in einem deutlich anderen
Umfeld. Es hat sich gezeigt, dass ohne eine gefestigte rechtsstaatliche
Ordnung auch eine Demokratie kippen kann. Die Vorstellung in manchen
mittelosteuropäischen Ländern, dass eine Mehrheit im alleinigen Besitz
der Wahrheit sei und sich Justiz und Medien gefügig machen könne, wie es
ihr gefällt, zeigt diese Verletzlichkeit auch unter Mitgliedern der
Europäischen Union. Der beschlossene Austritt Großbritanniens aus diesem
Projekt des Friedens und des Rechts sowie die verbreitete Spaltung
westlicher Gesellschaften machen deutlich: Es gibt keine
Bestandsgarantie für Institutionen – sei deren Gründung von einer noch
so großen Mehrheit getragen oder seien sie aus Katastrophen
hervorgegangen.
Niemand ist grundsätzlich gegen Willkür- und
Gewaltherrschaft gefeit. Auch schreckliche Erfahrungen und eine noch so
gute Verfassung sind keine Garantie. Jedes Recht, und erscheint es noch
so naturgegeben, muss auch in der Republik immer wieder erkämpft und
verteidigt werden. Das ist eine Lehre aus jenem gar nicht so fernen
Krieg, in dem vor hundert Jahren die Waffen einstweilen schwiegen."
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http://edition.faz.net/faz-edition/seite-eins/2018-11-09/f9e4d4a7dc33d05e67e618cdad47d281/?GEPC=s2&fbclid=IwAR1qGgiuwqVc-zJLsKmTY0fVPRnvsMUVoH626GsgUMj82ed4jDteygL9msU