Montag, 19. November 2018

Einen Strafbefehl erhalten – und jetzt?


Einen Strafbefehl erhalten – und jetzt?

Gegen falsche Verurteilungen wegen eines rechtsstaatlich umstrittenen Strafbefehls helfen Einsprachen

NZZ vom Montag, den 18.11.2018
von Kenad Melunovic Marini


Ausser bei Verkehrsdelikten sind Strafbefehle von Staatsanwälten in vielen Fällen fragwürdig.



Der Erlass von Strafbefehlen ist ein Massengeschäft. Ausserhalb von Bagatelldelikten leidet dabei meist die Abklärung des Sachverhalts. Eine Einsprache lohnt sich auf jeden Fall, und in gewissen Fällen ist es ratsam, einen Rechtsanwalt beizuziehen.



Seit dem Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung im Januar 2011 werden über neunzig Prozent aller Strafverfahren in der Schweiz im sogenannten Strafbefehlsverfahren erledigt. Der Strafbefehl wird jedoch nicht von einem Gericht, sondern von der Staatsanwaltschaft erlassen und hat die gleichen Wirkungen wie eine Verurteilung. Der «Urteilsvorschlag» kann zwar mit einer einfachen Einsprache abgelehnt werden, oft verstehen die Bestraften den Inhalt und insbesondere die Tragweite aber nicht oder schrecken vor möglichen Kosten zurück. Dieser Beitrag soll zum Verständnis beitragen und etwas Klarheit schaffen.



Die Schweizerische Strafprozessordnung sieht vor, dass – bedingte oder unbedingte – Freiheitsstrafen von bis zu sechs Monaten nicht von einem Richter, sondern von der Staatsanwaltschaft ausgesprochen werden können. Sinn und Zweck des Strafbefehlsverfahrens ist die möglichst rasche und kostengünstige Bewältigung grosser Fallzahlen. Während diese Ausgestaltung der Kompetenzen im Bereich von Massendelikten auf den ersten Blick unproblematisch erscheint – zu denken ist insbesondere an Verletzungen von Strassenverkehrsvorschriften –, stösst der Strafbefehl in allen anderen Fällen in mancher Hinsicht an seine rechtsstaatliche Tauglichkeitsgrenze und liegt bei genauerer Betrachtung höchst selten im Interesse der beschuldigten Person. Rechtsstaatlich bedenklich ist insbesondere, dass sich beim Strafbefehl der Staatsanwalt und damit die Exekutivbehörde in der Rolle des unabhängigen Richters befindet. Noch schwerer wiegt jedoch der Mangel, dass sich Effizienz und Kostenschlankheit im Strafbefehlsverfahren zulasten der Objektivität und letztlich der «Wahrheit» auswirken.



Ein Strafbefehl kann richtig und kostengünstig sein, nur: Das ist er selten. Strafbefehle sind ein Massengeschäft. Handelt es sich nicht um ein Bagatell- oder weitgehend standardisiertes Verkehrs- oder leichtes Betäubungsmitteldelikt, haften den Strafbefehlen daher häufig Fehler an, deren Ursache – systembedingt – eine ungenügende Abklärung des Einzelfalls und damit des rechtserheblichen Sachverhalts ist. Die Folge ist: Es wird bestraft, wer bei genauem Hinschauen nicht bestraft würde. Um der geforderten Effizienz Genüge zu tun, wird insbesondere häufig auf eine Einvernahme (Anhörung) der zu bestrafenden Person verzichtet; weder zum Vorwurf noch zur Person. Erhebt die beschuldigte Person keine Einsprache, wird der staatsanwaltschaftliche «Versuchsballon» zum rechtskräftigen Urteil.


Der Bürger versteht oft nicht

Eine Aufklärung über den Inhalt des Strafbefehls und die Folgen eines Einspracheverzichts oder eine ausdrückliche Anerkennung des im Strafbefehl umschriebenen Sachverhalts durch die zu bestrafende Person ist nicht erforderlich. Diese Zustimmungsfiktion bei Ausbleiben einer Einsprache ist mit Blick auf den Grundsatz, dass Strafe nur Ultima Ratio staatlichen Handelns gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern sein sollte, problematisch. Gerade wenn man bedenkt, dass Strafbefehle in juristischer Sprache abgefasst sind und die Folgen meist nicht genannt werden. Nicht erwähnt wird etwa, dass der rechtskräftige Strafbefehl zu einem Eintrag im Strafregister führt, soweit damit nicht nur eine Busse ausgesprochen wird. Die zu bestrafende Person kann zwar Einsprache erheben, ohne diese begründen zu müssen, die Zustimmungsfiktion ist dennoch stossend, da der Strafbefehl oft per Post zugestellt wird und abgesehen von der eigentlichen Strafe regelmässig die Grundlage für verwaltungsrechtliche Massnahmen (zum Beispiel Administrativmassnahmen im Strassenverkehrsrecht) und/oder zivilrechtliche Ansprüche (Schadenersatz, Genugtuung) bildet, an welche die Behörden gebunden sind.



Wird der Strafbefehl nicht fristgerecht bei der Post abgeholt, gilt er trotzdem als zugestellt und bei fehlender Einsprache, etwa infolge Ferienabwesenheit, kann es geschehen, dass eine Strafe rechtskräftig wird und im Strafregister eingetragen wird, ohne dass der Bestrafte überhaupt davon erfahren hat oder sich wehren konnte. Selbst wenn der Inhalt des Strafbefehls verstanden und dessen Tragweite richtig erkannt wird, verzichtet eine grosse Mehrzahl der Bestraften auf eine Einsprache. Sie gehen fälschlicherweise davon aus, mit der stillen Annahme des Strafbefehls könne Geld und Zeit gespart werden. Eine Einsprache aber kostet nichts und kann in der Regel später zurückgezogen werden, ohne dass weitere Kosten anfallen.


Wann braucht es den Anwalt?

Wurde ein Strafbefehl zugestellt, ohne dass die zu bestrafende Person je die Gelegenheit hatte, sich zum Vorwurf oder zu den Umständen zu äussern, sollte zwingend umgehend Einsprache erhoben werden. Mit der Einsprache erklärt die beschuldigte Person, dass sie mit dem «Urteilsvorschlag» der Staatsanwaltschaft nicht einverstanden ist. Dafür braucht es keinen Anwalt, und es genügt der Satz «Ich erhebe Einsprache». Die Einsprache muss also nicht begründet werden und führt zunächst nur dazu, dass die Staatsanwaltschaft weitere Beweise erhebt, die zur Beurteilung der Einsprache erforderlich sind. Die Staatsanwaltschaft wird in der Regel eine Einvernahme ansetzen, an welcher der Einsprecher sowohl zu den Gründen seiner Einsprache als auch zur Sache und Person befragt wird.



Wenn es sich nicht um eine klare Bagatellsache handelt, sollte sich der Betroffene spätestens zum Zeitpunkt, in welchem zur Einvernahme vorgeladen wird, von einer Rechtsanwältin oder einem Rechtsanwalt über die Erfolgsaussichten im konkreten Fall und das richtige Verhalten in der Einvernahme beraten lassen. Für die Frage, ob es sich um eine Bagatellsache handelt, ist die Strafart ein geeigneter Massstab. Wurde im Strafbefehl ausschliesslich eine Busse ausgesprochen, handelt es sich um eine Bagatelle. Die Busse wird auch nicht im Strafregister eingetragen, wenn sie den Betrag von 5000 Franken nicht übersteigt. Wird im Strafbefehl hingegen eine Geldstrafe oder Freiheitsstrafe ausgesprochen, unabhängig davon, ob sie bedingt oder unbedingt (vollziehbar) ausgesprochen wird, sollte eine rechtskundige Beratung in Anspruch genommen werden. Der überschaubare finanzielle Aufwand für eine erste Einschätzung dürfte sich in sehr vielen Fällen lohnen.



Kenad Melunovic Marini ist Partner der Anwaltskanzlei imkp in Zürich und Fachanwalt SAV Strafrecht.

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