Montag, 19. November 2018

Reinhard Müller, F.A.Z. und der Dolchstoss

1918: Hat es den Dolchstoß gegeben?


Geschickt vermischt Reinhard Müller in seinem Artikel „Als die Waffen schwiegen“ (F.A.Z. vom 09.11.2018) - siehe weiter unten - Sachverhalte, die grundsätzlich völlig verschieden liegen, aber oberflächlich gesehen zusammenpassen.
 

«Gab es den „Dolchstoß“? Oder war er nur Legende?» 
Diese Frage stellt sich Müller, beantwortet sie aber keineswegs, denn er übergeht sie spielerisch. Weiter unten wird darauf eingegangen.

Die Dolchstoßlegende (auch Dolchstoßlüge) erschien als erstes in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 17.12.1918: „Was die deutsche Armee betrifft, so kann die allgemeine Ansicht in das Wort zusammengefasst werden: Sie wurde von der Zivilbevölkerung von hinten erdolcht.“ Der namentlich nicht genannte Autor nannte als Quelle den britischen General Sir Frederick Maurice. Maurice habe dies zuvor in der britischen Zeitung Daily News veröffentlicht. Dies stellte sich jedoch als falsch heraus und wurde auch von Maurice dementiert. (Quelle: Wikipedia)

Es hat keinen „Dolchstoß“ gegeben - denn, obschon die Menschen in Deutschland - der Heimatfront - schwer an Hunger litten, die kaiserlichen Truppen wurden an der Front in Frankreich vernichtend geschlagen.
 

Konkret: Die deutschen Frühjahrsoffensive 1918 scheiterte. Am 8. Juli 1918 beginnt die alliierte Gegenoffensive zwischen Marne und Aisne mit massiver Panzerunterstützung, der Einbruch in die deutschen Linien gelingt: der Ablauf und Ausgang dieser Offensive ist die endgültige Kriegswende. 13. bis 15. August 1918: Konferenz über die Kriegslage im deutschen Großen Hauptquartier in Spa. Hoffnungen auf einen militärischen Sieg sind nicht mehr vorhanden. Ende September beginnt, eingeleitet durch die amerikanische Meuse-Argonne-Offensive der Angriff auf die letzte deutsche Verteidigungslinie, mit deren Fall im Oktober der Krieg für Deutschland verloren ist. Bereits am 29.09. - nach dem alliierten Durchbruch durch die Siegfriedlinie - fordert die Oberste Heeresleitung, die Aussichtslosigkeit der Lage erkennend, von der Reichsregierung die sofortige Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen, verbunden mit dem Hinweis, dass die Front jeden Tag zusammenbrechen könne. Schon lange vor dem Waffenstillstand am 11.11. ist für viele deutsche Soldaten den Krieg beendet, sie kehren der Front den Rücken und streben der Heimat zu: Desertion in großer Zahl. Die Meuterei der deutschen Matrosen in Wilhelmshaven und in Kiel ist der Auftakt der Novemberrevolution: die Bildung von Soldaten- und Arbeiterräten, die Absetzung von Kaiser, Königen und Herzögen sonder Zahl.

Leider gibt Müller keine konkrete Antwort auf seine Frage «Gab es den „Dolchstoß“? - Oder war er also nur Legende?» sondern weicht - meiner Meinung nach äußerst salopp - aus, indem er auf die Zersetzungserscheinungen in der französischen Armee und die fragliche Qualität britischer Generäle hinweist. Sicherlich, die Soldaten auf beiden Seiten der Front waren kriegsmüde.
 

Aber die Dolchstoßlüge suggeriert etwas ganz anderes:
Die von Hindenburg und Ludendorff kommandierte deutsche Armee - immer noch in Frankreich stehend - „wurde von der Zivilbevölkerung von hinten erdolcht“: die Armee des Kaisers war keineswegs geschlagen, sondern musste kapitulieren, weil die deutschen Frauen und Männer an der Heimatfront ihre Unterstützung versagten. Noch heute - 100 Jahre danach - wird behauptet, dass die kaiserliche Armee den Krieg hätte gewinnen können, Deutschland die Schmach von Versailles erspart geblieben wäre, das deutsche Kaiserreich noch bestehen würde.
 

Der effektive Ablauf an der Westfront - wie oben skizziert - macht klar: es gab den „Dolchstoß“ nicht.
 

Aber damals - nach 1918, in der Weimarer Republik - wurde diese Lüge von den revanchistischen Kräften - besiegte Offiziere der Reichswehr, entmachtete, leider nicht enteignete Angehörige des Adels, Profiteure des kaiserlichen Regimes, wie Industrielle und Großbürger, die mit Adelstiteln geködert worden waren - als Fake News gegen die Bemühungen der demokratischen Kräfte, wie die der SPD unter Friedrich Ebert eingesetzt und hat zweifelsohne dazu beigetragen, dass die Weimarer Republik dem Tode geweiht war.

Daher haben im Zweiten Weltkrieg die Russen unter Stalin die Hauptstadt des Großdeutschen Reiches, Berlin erobert und sind die Amerikaner in die hintersten Ecken einer nicht existierenden Alpenfestung gefahren, haben die Truppen Frankreichs, Großbritanniens, der USA und der Sowjetunion das Deutsche Reich vollständig besetzt, und über Jahre besetzt gehalten, damit kein Deutscher je wieder eine solche Mär auftischen kann.


"Als die Waffen schwiegen"
von Dr. Reinhard Müller in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Freitag, den 09.11.2018:

"In der Rückschau läuft alles oft auf Hitler zu: von Luther zu Hitler, von Bismarck zu Hitler, von Wilhelm II. zu Hitler. Und war nicht die Weimarer Republik von vornherein zum Scheitern verurteilt? Das war sie nicht. Solche zwanghaften Zwangsläufigkeiten gibt es nur aus heutiger Sicht. Bei allen interessanten Kontinuitäten: Die deutsche Geschichte war damals so offen, wie sie es heute ist.
So auch bei der Ausrufung der Republik vor hundert Jahren und beim Waffenstillstand zwei Tage später, am 11. November 1918. Auch wenn die Nachgeborenen von zwei verlorenen Weltkriegen sprechen, so waren diese beiden fürchterlichen Großbrände grundverschieden, und so unterschiedlich war auch ihr Ende. 1918 war Deutschland zunächst nicht und später nur zu geringen Teilen besetzt. Das Heer stand tief in Frankreich. Noch im Frühjahr ließ eine Offensive Hoffnung auf einen Sieg aufkommen. Umgekehrt ist heute weitgehend unbekannt, dass im Reich wegen der Blockade gehungert wurde. Doch die Revolution ging von Soldaten aus, die sich nicht länger verheizen lassen wollten. Die Matrosen meuterten, und das Volk schickte seine Monarchen weg.
Das war eine große Umwälzung. Früher als in manchen „älteren“ Demokratien erhielten Frauen das Wahlrecht. Es war zugleich ein Neubeginn, der sich durchaus auf eine demokratische, eine rechtsstaatliche Tradition stützen konnte – auf die der Paulskirchenverfassung. Daran konnte Weimar anknüpfen mit einer Verfassung, die echte Grundrechte gewährte und die so schlecht nicht war, jedenfalls nur so gut sein konnte, wie sie mit Leben gefüllt wurde.
Immerhin war schon das Kaiserreich, wenn nicht nach gegenwärtigen Maßstäben, so doch auf gewisse Weise ein demokratischer Rechtsstaat gewesen. Vor allem war es eine Wirtschafts- und Wissenschaftsmacht von Weltrang. So startete die junge Republik mit großen Erwartungen und mit Belastungen, die aus dem Krieg herrührten.
 
Gab es den „Dolchstoß“? Oder war er nur Legende? 
Auch Friedrich Ebert versicherte den heimkehrenden Soldaten freilich, dass kein Feind sie besiegt habe. Das Gefühl, die kämpfende Truppe sei „verraten“ worden, war nicht nur in Deutschland verbreitet. The Donkeys“ nannte der britische Historiker und Politiker Alan Clark sein Buch über die britischen Generäle im Ersten Weltkrieg – die Esel. In Frankreich wurde Stanley Kubricks eindringlicher Spielfilm „Paths of Glory“ von 1957, der das Verheizen und Hinrichten französischer Soldaten durch die eigenen Offiziere im Ersten Weltkrieg thematisiert, erst 1975 gezeigt.

In Deutschland beschloss der verwundete Soldat Adolf Hitler, Politiker zu werden, wie er das später darstellte. Authentisch war jedenfalls die Erfahrung des Krieges, die er mit Millionen teilte. Wie konnte es geschehen, dass viele der Veteranen, die das Schlachten überlebt hatten, bald wieder die Waffen in die Hand nahmen, zunächst in paramilitärischen Verbänden auf den Straßen der jungen Republik? Wie war es möglich, dass sie in einen noch größeren Krieg zogen und halfen, einen Völkermord möglich zu machen? Ob aus Zwang, überkommenem Pflichtgefühl oder aus Überzeugung: sie marschierten in einen noch schrecklicheren Krieg mit noch mehr Opfern. Die Völker der Welt reagierten darauf mit der Gründung der Vereinten Nationen und der Ächtung des Krieges; aber einen dauerhaften, die Welt umspannenden Frieden gibt es nicht.
Ist der Schoß noch fruchtbar? Diese Frage stellt sich heute wieder. Offenbar darf die allgemeine Fähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, nicht überschätzt werden. Dazu muss man sie freilich erst einmal kennen. Parallelen zu damals scheinen immer wieder auf, wenn auch in einem deutlich anderen Umfeld. Es hat sich gezeigt, dass ohne eine gefestigte rechtsstaatliche Ordnung auch eine Demokratie kippen kann. Die Vorstellung in manchen mittelosteuropäischen Ländern, dass eine Mehrheit im alleinigen Besitz der Wahrheit sei und sich Justiz und Medien gefügig machen könne, wie es ihr gefällt, zeigt diese Verletzlichkeit auch unter Mitgliedern der Europäischen Union. Der beschlossene Austritt Großbritanniens aus diesem Projekt des Friedens und des Rechts sowie die verbreitete Spaltung westlicher Gesellschaften machen deutlich: Es gibt keine Bestandsgarantie für Institutionen – sei deren Gründung von einer noch so großen Mehrheit getragen oder seien sie aus Katastrophen hervorgegangen.
Niemand ist grundsätzlich gegen Willkür- und Gewaltherrschaft gefeit. Auch schreckliche Erfahrungen und eine noch so gute Verfassung sind keine Garantie. Jedes Recht, und erscheint es noch so naturgegeben, muss auch in der Republik immer wieder erkämpft und verteidigt werden. Das ist eine Lehre aus jenem gar nicht so fernen Krieg, in dem vor hundert Jahren die Waffen einstweilen schwiegen."



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