
Er öffnete seine Hose in der Sakristei
Ein
australisches Geschworenengericht hat Kardinal George Pell des
sexuellen Missbrauchs für schuldig befunden. Der Vatikan spricht von
einer „schmerzhaften Nachricht“. Von Till Fähnders und Matthias Rüb
HANOI/ROM, 26. Februar
Als
Kardinal Pell am Dienstag den Gerichtssaal in Melbourne verlässt, muss
er sich einen Weg durch eine wütende Menschenmenge bahnen. Auf
Mitschnitten ist zu hören, wie der Kardinal und Berater von Papst
Franziskus als „Abschaum“, „Freak“ und „Kinderbefummler“ beschimpft
wird. Die Polizei hat Schwierigkeiten, Pell vor der aufgebrachten Menge
zu schützen. Kurz zuvor hatte der Richter Peter Kidd den Schuldspruch
gegen Pell wegen sexuellen Missbrauchs und sexueller Belästigung von
zwei Minderjährigen bestätigt. Das Urteil war schon Mitte Dezember von
einem Geschworenengericht in Melbourne einstimmig gefällt worden, durfte
aber bis Dienstag nicht publik gemacht werden, um den Verlauf eines
zweiten Prozesses gegen Pell nicht zu beeinflussen, der mittlerweile
abgesagt wurde. Das Gericht hatte eine Berichterstattung verboten.
Dennoch war der Schuldspruch durch eine Indiskretion schon im Dezember
bekanntgeworden.
Am
ersten Tag des Prozesses, der im August begann, las der Richter die
fünf Anklagepunkte gegen Pell vor. Die Anklage lautete zunächst auf
zweimal „sexuelle Penetration von Kindern unter 16 Jahren“. Die drei
anderen Punkte lauteten auf „obszöne Handlungen“ an oder in Anwesenheit
von Kindern unter 16 Jahren. Zu einem späteren Zeitpunkt des Prozesses
wird der erste Anklagepunkt ebenfalls auf „obszöne Handlungen“ geändert.
Pell soll im Jahr 1996 zwei Chorknaben sexuell missbraucht haben. Die
beiden waren damals zwölf und 13 Jahre alt. Einer von ihnen ist im Jahr
2014 an einer Überdosis Heroin gestorben. Nach jedem Anklagepunkt wurde
Pell gefragt, ob er sich schuldig bekennt oder nicht. „Nicht schuldig!“,
erwiderte er mit kräftiger Stimme. Fünfmal hintereinander.
Nach
Auffassung der Staatsanwaltschaft dürfte der erste Vorfall, der Pell
zur Last gelegt wird, am 15. oder 22. Dezember 1996 passiert sein, in
der Kathedrale von St. Patrick in Melbourne nach der Sonntagsmesse. Pell
war damals erst seit kurzem zum Erzbischof der Stadt befördert worden.
In dieser Kirche ist es üblich, dass die Gottesdienst-Besucher in einer
Prozession durch die schweren Kirchentüren ins Freie schreiten, unter
ihnen nach Stimmlagen geordnet auch der Chor. An der Prozession nahmen
damals auch zwei Chorknaben teil, Stipendiaten des St. Kevin’s College
von Melbourne, einer katholischen Schule mit einem makellosen Ruf.
Die
beiden Jungen waren für ihre glockenhellen Stimmen für das College
ausgewählt worden. Sie hatten offenbar auch einen leichten Hang zur
Aufmüpfigkeit. Nach der Messe setzten sich die beiden von der Prozession
ab. Sie drangen in die Sakristei ein. Nach der Messe wollten sie „etwas
Spaß haben“, wie sich der Staatsanwalt Mark Gibson vor dem Gericht in
Melbourne ausdrückte. Die beiden Jungen fanden in einem Schränkchen ein
Fläschchen Messwein. Nach Angaben des einen tranken sie auch ein paar
Schlucke Wein.
Es
war der Moment, in dem George Pell in die Sakristei trat. Der
Erzbischof erwischte die Jungen dabei, „ungezogen“ gewesen zu sein, wie
sich das Opfer vor Gericht ausdrückte. Er baute sich mit seiner ganzen
imposanten Figur vor ihnen auf. „Das gibt Ärger“, oder so etwas
Ähnliches habe Pell gesagt, erinnert sich der Zeuge. Nach seiner
Darstellung schob Pell dann sein Priestergewand zur Seite und öffnete
seine Hose. Dann zog er den Kopf des einen Chorknaben nach unten. Nach
einer Weile ließ der Erzbischof von ihm ab, fasste den zweiten Jungen am
Hinterkopf und zwängte ihm seinen Penis in den Mund.
Insgesamt
soll dies ein paar Sekunden gedauert haben, sagte das Opfer vor Gericht
aus. Dann habe Pell ihm befohlen, seine eigene Hose herunterzuziehen.
Pell fasste die Genitalien des Jungen an und masturbierte dabei mit der
anderen Hand. Nach einer kurzen Weile sei Pell wieder aufgestanden und
habe die beiden hinausgeschickt.
Der
Missbrauch hatte nach Schätzung der Staatsanwaltschaft insgesamt fünf
bis sechs Minuten gedauert. Keiner der beiden Jungen habe jemals über
das Geschehen gesprochen. „Nicht darüber zu sprechen war meine Art,
damit umzugehen. Ich verdrängte es bis in die dunkelsten Ecken und
Winkel meines Gehirns“, sagte der heute 35 Jahre alte Mann vor Gericht
aus. Etwa einen Monat nach diesen ersten Vorkommnissen soll Pell dann
noch einmal den Jungen in der Kathedrale bedrängt haben. Er drückte den
Teenager an eine Wand und fasste ihm mit seiner Hand fest zwischen die
Beine. „Niemand sagte etwas. Es war in wenigen Sekunden vorbei“, so das
Opfer später vor Gericht.
Insgesamt
wurden im Verlauf des Prozesses 25 Zeugen gehört, darunter mehrere
Chorknaben und Kirchenmitarbeiter. Pell selbst wies die Anschuldigungen
während einer Vernehmung durch die australische Polizei im Vatikan 2016
als „Müll“, „Lüge“ und „geistesgestörte Lüge“ zurück. Sein Anwalt
bemühte sich, den Prozess als Hexenjagd gegen Pell darzustellen. In
seinem Schlussplädoyer sagte er in Anspielung auf einen berühmten
Filmbösewicht, Pell werde wie „ein Darth Vader der katholischen Kirche“
dargestellt.
Tatsächlich
ist Pell in den vergangenen Jahren zu einer Hassfigur geworden. Als
einen der ranghöchsten Repräsentanten der australischen Kirche machen
viele ihn für die Vertuschung des über die Jahre weit verbreiteten
Missbrauchs verantwortlich. Pell hat sich stets geweigert, ein eigenes
Fehlverhalten einzugestehen. Er ist nicht der Typ für Selbstzweifel. Im
Jahr 1941 in Ballarat geboren, war er als Kind kränklich. Dennoch wäre
aus dem Sohn eines englischstämmigen Boxsportlers fast ein
professioneller Rugby-Spieler geworden. Unter Einfluss seiner irischen
Mutter entschied er sich aber für eine kirchliche Laufbahn. Nach dem
Studium in Oxford war er als Priester in seiner Heimatstadt Ballarat
tätig. In dem früheren Goldgräberort hat sich eine ungewöhnlich hohe
Zahl an Priestern, Ordensbrüdern und Lehrern an Kindern vergangen. Doch
Pell blieb von den Skandalen weitgehend unberührt, er wurde erst zum
Erzbischof von Melbourne und später von Sydney ernannt, bevor ihn Papst
Franziskus 2014 als Präfekt des neugeschaffenen Wirtschaftssekretariats
in den Vatikan berief.
Am
Schluss der letzten Sitzung vor dem Urteilsspruch im Dezember ermahnte
der Richter die Geschworenen, sie sollten Pell nicht zum Sündenbock für
das Verhalten der katholischen Kirche machen. Die Geschworenen erklärten
ihn einstimmig und in allen Anklagepunkten für schuldig. Das Strafmaß
für Pell wird erst in den kommenden Tagen festgelegt. Zudem muss das
Gericht auch noch über das Berufungsverfahren entscheiden, das Pells
Anwälte beantragt haben.
Das
Urteil erschüttert die katholische Kirche, besonders aber die
katholische Gemeinde in Australien. Für die 5,5 Millionen australischen
Katholiken war es ein Grund zum Stolz, dass es einer von ihnen in der
Hierarchie des Vatikans so weit gebracht hatte. Papst Franziskus hatte
Pell vor fünf Jahren nach Rom geholt, um die Finanzen des Heiligen
Stuhls in Ordnung zu bringen.
Der
Vatikan sprach nach Bekanntwerden des Schuldspruchs gegen Kardinal Pell
von einer „schmerzhaften Nachricht“, die nicht nur in Australien „viele
Menschen schockiert“ habe. Sein Sprecher Alessandro Gisotti bekräftigte
am Dienstag in Rom, dass der Vatikan den „höchsten Respekt“ vor den
australischen Justizbehörden habe und verwies darauf, dass bis zu einer
abschließenden Beurteilung des Falles der Ausgang des
Berufungsverfahrens abzuwarten sei. „Kardinal Pell hat seine Unschuld
beteuert und hat das Recht, sich zu verteidigen.“ In der von Gisotti
verlesenen Erklärung heißt es weiter, dem Kardinal bleibe auf Anweisung
des Papstes „die öffentliche Ausübung des Priesteramtes und der Kontakt
zu Minderjährigen verboten“. Diese schon zum Zeitpunkt der Rückkehr
Pells nach Australien im Juni 2017 verhängte „Vorsichtsmaßnahme“ gelte
weiter, bis „die Fakten definitiv geklärt“ seien.
Kurz
vor seiner Rückreise nach Australien hatte sich Pell auch von seinem
Posten als Präfekt des Wirtschaftssekretariats beurlauben lassen. Einen
Nachfolger Pells auf dem wichtigen Posten im Vatikan hat Franziskus noch
nicht ernannt. Die Amtszeit Pells als „Finanzchef“ des Vatikans war am
vergangenen Sonntag nach fünf Jahren turnusgemäß zu Ende gegangen. Bis
Oktober 2018 war Pell außerdem Mitglied des Kardinalsrates, den
Franziskus im April 2013 als Beratungsgremium für eine Reform der
römischen Kurie ins Leben gerufen hatte. An der Arbeit des
Kardinalsrates, dem inzwischen nur noch sechs Mitglieder angehören,
unter ihnen der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Reinhard
Kardinal Marx, hatte sich Pell seit Sommer 2017 nicht mehr beteiligt.
Pells Ausscheiden aus dem Rat war am 12. Dezember vom Vatikan mitgeteilt
und unter anderem mit seinem „fortgeschrittenen Alter“ begründet
worden. Einige Stunden zuvor war der Schuldspruch des
Geschworenengerichts gegen Pell durch eine Indiskretion bekanntgeworden.
In Anlehnung an die ähnlich lautende Erklärung der australischen
Bischofskonferenz heißt es in der Mitteilung des Vatikans vom Dienstag:
„Ohne dem abschließenden Urteil vorzugreifen, beten wir zusammen mit den
australischen Bischöfen für alle Opfer von Missbrauch. Wir bekräftigen
aufs Neue unseren Willen, alles nur Mögliche zu tun, damit die Kirche
ein sicherer Ort für alle ist, vor allem für Kinder und für die
verletzlichsten Menschen.“
Pell
war über Australien und den Vatikan hinaus einer der weltweit
prominentesten Kardinäle. Bekannt wurde er vor allem als einer der
Wortführer des konservativen Flügels im Kardinalskollegium. So sprach er
sich entschieden gegen Reformen im Bereich der kirchlichen Sexualmoral
aus und war ein Gegner des päpstlichen Entgegenkommens gegenüber
Katholiken, die nach einer Scheidung abermals heiraten.
Die
Anschuldigungen, wegen derer Pell nun verurteilt wurde, waren noch
nicht bekannt, als Papst Franziskus den australischen Kardinal 2013 in
seinen Kardinalsrat berief. Seit längerem gab es damals aber schon
Vorwürfe, Pell habe sexuellen Missbrauch vertuscht.