„Frankfurter Allgemeine Zeitung“
vom Samstag, den 03.03.2018, 08:18 Uhr;
von Alexander Haneke , Berlin
Foto:"Aufruhr im Kiez: Auch in
das Café „Dolphin´s“ auf der Hermannstraße dringen die Beamten ein." Bild: Jens;
In Neukölln haben sich
arabische Familien eine Welt aufgebaut, in der sie sich ihre eigenen Regeln
geben. Während anderswo in Berlin noch darüber diskutiert wird, ob der Begriff
„Clans“ diskriminierend sei, versucht der Staat, sich wieder Respekt zu
verschaffen.
Es ist Freitagabend in
Neukölln, und die Staatsmacht hat ihre Kräfte gebündelt, um sich zurückzumelden
im Unterholz der Großstadt. Schattenwirtschaft, Geldwäsche, Drogen, Glückspiel
und Prostitution, das alles kontrolliert von ethnisch organisierten Clans, die
das Viertel unter sich aufgeteilt haben. Ein knappes Dutzend Polizisten der
örtlichen Wache, etwa ebenso viele Leute vom Ordnungsamt, dazu ein Mitarbeiter
der Bezirksbürgermeisterin, eine Frau vom Wohnungsamt, zwei Beamte der AGIA,
wie die Ausländerpolizei heute heißt, und eine Staatsanwältin.
„Schwerpunkteinsatz“ nennt man das in Neukölln – alle Behörden ziehen an einem
Strang, um dem Recht wieder Geltung zu verschaffen. Cafés, Shisha-Bars,
Spielhöllen und illegale Bordelle stehen an diesem Abend auf dem Programm.
Alexander Haneke
Wo der Chef sei, wird im
„Cafe easy“ der Mann hinter der Theke gefragt. Der guckt verdutzt und stammelt
etwas in seinen langen, grauen Schnauzbart. Wo der Chef sei, wisse er nicht. Er
stehe hier nur kurz als Aushilfe. Vielleicht komme der Chef bald, vielleicht
aber auch nicht. Und nein, er wisse auch gar nicht, wie der Chef heißt. Ein
Fernseher zeigt Fußballspiele, auf der Theke stößt ein Teekocher kleine
Dampfwolken in den Raum. Der Kühlschrank hinter der Bar ist fast leer. Im „Cafe
easy“, das wird schnell klar, steht der Getränkeumsatz nicht im Vordergrund.
Über das „Cafe easy“
hatte es Hinweise gegeben, dass hier Gestalten aus dem Drogenmilieu verkehrten.
Der Schnauzbartträger hinter der Theke wird noch ahnungsloser, als ihn die
Beamten nach dem Schlüssel zu dem Hinterzimmer fragen. Einer der Beamten steigt
vom Hof aus durch ein angelehntes Fenster in das Zimmer. Der Schlüssel steckt
von innen, auf einem Tisch ein Aschenbecher mit einer hastig ausgedrückten
Zigarette. Ein Bildschirm zeigt die Videoüberwachung aus dem Gastraum, davor
ein Küchenbrett, auf dem gerade ein Block Haschisch mit einem Messer in
Portionen geschnitten wurde. Wer auch immer hier gerade saß und das Rauschgift
abmaß, während er die Polizisten auf dem Bildschirm ins Lokal kommen sah, er
ist längst auf und davon. „Feuer frei“, ruft der Einsatzleiter seinen Leuten
zu. Das „Cafe easy“ wird auf den Kopf gestellt.
Der Staat wird zu
Machtdemonstrationen herausgefordert
Wann genau die Situation
in Neukölln aus dem Ruder gelaufen ist, kann keiner mehr so genau sagen. Der
alte Arbeiterbezirk mit seiner dichten Gründerzeitbebauung hatte lange eine
wenig beachtete Randexistenz geführt. Zu einer Seite die Mauer, im Westen das
riesige Rollfeld des alten Flughafens Tempelhof. Erst der frühere Bezirksbürgermeister
Heinz Buschkowsky hatte lautstark auf die Probleme des Stadtteils hingewiesen
und war dafür aus seiner Partei, der SPD, teils heftig kritisiert worden. Heute
führen die berüchtigten arabischstämmigen Familienclans, die allein in Neukölln
1000 Mitglieder zählen sollen, die Liste der Probleme an. Sie fordern den Staat
inzwischen mit offenen Machtdemonstrationen heraus, wie dem bewaffneten
Überfall auf ein Pokerturnier im Hyatt-Hotel am Potsdamer Platz, der Plünderung
der Juwelier-Abteilung im KaDeWe am helllichten Tag oder Einbrüchen im
Bode-Museum – oder im Landeskriminalamt.
Im Rest Berlins wird noch
diskutiert, ob der Begriff „Clan“ nicht diskriminierend sei. In Neukölln nennt
man die Dinge beim Namen. „Es gibt kriminelle Clans in Berlin, die Gebiete
unter sich aufteilen, die nichts mit unserem Rechtsstaat zu tun haben wollen“,
sagt Buschkowskys Nachfolgerin Franziska Giffey. Von ihrem Amtszimmer hat sie
freien Blick auf das dichte Treiben auf der Karl-Marx-Straße, die das Viertel
zwischen Sonnenallee und Hermannstraße durchschneidet. Türkische Bäckereien
neben arabischen Grillrestaurants, Handy-Läden und orientalische Supermärkte,
in den Seitenstraßen immer mehr hippe Cafés und Bars. Neukölln ist längst eines
der beliebtesten Viertel für Neuberliner aus aller Welt, die hier
Großstadtflair und angesagte Läden finden. „Wir sind in der Debatte teilweise
noch an dem Punkt: Darf man das Problem eigentlich so klar benennen oder
nicht?“, sagt die SPD-Politikerin. „Und da ist man schnell an dem Punkt: Darf
man das Problem haben oder nicht. Aber wir haben das Problem, und wir müssen
uns darum kümmern.“
Auf dem Weg zum Einsatz
im Auto des Ordnungsamtes. Polizei und Ordnungsamt wollen Präsenz gegenüber
Kleinkriminellen und arabischen Familienclans im Bezirk Neukölln zeigen.
Bilderstrecke
Die Geschichte der
arabischen Clans ist ein Musterbeispiel für misslungene Integrationspolitik.
Die Familien, die vor allem im Zuge des Libanon-Krieges nach Deutschland
gekommen waren, erhielten hier zwar kein Bleiberecht, konnten aber auch nicht
abgeschoben werden, da sie der Libanon nicht als seine Staatsbürger
betrachtete. Ein Teil der Familien stammt ursprünglich aus Palästina, andere
sind sogenannte Mhallamiye-Kurden, die in den dreißiger Jahren des letzten
Jahrhunderts aus dem Südosten der Türkei in den Libanon gezogen waren. In
Deutschland bekamen sie keine Arbeitserlaubnis. Sozialleistungen wurden
gekürzt. Die Familien zogen sich zurück in ihre patriarchalische Männerwelt. Sie
suchten sich ihre eigenen Wege, um an Geld zu kommen. Regeln, die der Staat
vorgab, waren ihnen egal. So führten die Kinder erst die Statistiken der
Schulschwänzer und bald die der Intensivtäter an, während sich die Älteren das
Viertel untereinander aufteilten. Frauen hatten sich zu fügen. Geheiratet wurde
nur zwischen den Familien.
Musterbeispiel für
misslungene Integrationspolitik
Inzwischen wird nicht
mehr nur im Dunkeln, sondern ganz offen investiert: in Immobilien, Restaurants
oder Shisha-Bars. Während der Flüchtlingskrise sollen die Familien ganze Häuser
als Notunterkünfte an den Staat vermietet haben. Zwölf bis 14 dieser Familien
gibt es in Berlin – je nach Zählung. Acht davon haben ihren Mittelpunkt in
Neukölln. Zusammen werden die Clans für gut 20 Prozent der Straftaten im
Bereich organisierte Kriminalität verantwortlich gemacht.
Mythos und Wirklichkeit
sind oft kaum zu unterscheiden. Im Winter wurde die Stadt durch das Gerücht
aufgeschreckt, die Clans versuchten, die Polizeiakademie zu unterwandern.
Bisher fehlt dafür jeder Beleg. Doch auch auf den Amtsfluren in Neukölln
spricht man von Versuchen, Familienmitglieder in den Behörden zu installieren –
was läge näher. Niemand kann bei einem Bewerber mit einem der einschlägigen
Namen sicher sagen, ob es ein Versuch der planmäßigen Unterwanderung ist oder
schlicht ein Familienmitglied, das sich einen legalen Job suchen will.
Im vergangenen Jahr
brachte der Bezahlsender „TNT“ eine Fernsehserie auf den Markt, die im Milieu
der Familienclans spielt. Die sei sicher nah an der Realität. „Aber für uns ist
der Hype kontraproduktiv, wenn kriminelle Clanfiguren zu Helden werden und dann
das große Vorbild für die Jugend sind“, sagt Giffey. „Hier gibt es viele Kinder
aus Einwandererfamilien, die keine klare Orientierung haben und auf der Suche
sind nach irgendeinem Halt. Und dann sehen sie andere im Mercedes rumfahren und
denken sich, die kommen durch damit, das will ich auch.“ Das mit dem
Durchkommen soll in Zukunft nicht mehr so einfach sein.
„Wir brauchen keine neuen
Gesetze, vorhandene müssen angewandt werden“
Im „Cafe easy“ wird sich
kaum rausfinden lassen, wer hinter der Drogenverteilstation im Hinterzimmer
steht. Die Männer im Raum sind Türken, die Wände mit Schals und Wimpeln des
Istanbuler Fußballclubs Galatasaray geschmückt. Als Betreiberin angemeldet ist
eine junge Frau aus Bulgarien, von der keiner weiß, wo sie ist. Wer nur
Strohmann ist und wer der eigentliche Chef, lässt sich selten nachweisen.
Einziges Indiz ist, wer in der Gruppe als Wortführer auftritt. Vor Gericht
reicht das natürlich nicht. Im „Cafe easy“ taucht nach etwa zwanzig Minuten ein
junger Mann mit dunklem Bart auf, drei Freunde als Entourage. Mit seinem
schwarzen Audi-SUV hält er auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er stellt
sich als der Betreiber der Spielautomaten vor. Automaten sind ein vielseitiges
Geschäft. Wer hier sein Geld versenkt, weiß, in welchen Händen es landet, fast
wie bei einem Bankschalter.
Doch der Bezirk will sich
nicht länger auf der Nase herumtanzen lassen – und hat seine eigenen Mittel.
„Wir brauchen ja keine neuen Gesetze“, sagt Bürgermeisterin Giffey. „Wir müssen
die vorhandenen einfach mal konsequent anwenden.“ Die Schwerpunkteinsätze
finden inzwischen regelmäßig statt, trotz aller Personalengpässe in der Verwaltung.
„Die Menschen sollen sehen, dass wir wieder da sind. Es muss sich rumsprechen,
dass mal wieder einer festgenommen wird.“ Der Staat zieht sich nicht mehr
zurück.
Doch die gemeinsamen
Aktionen haben noch ein weiteres Ziel. Die Verwaltung soll besser
zusammenarbeiten. Ein Grund für die Misere war, dass jedes Amt nicht über den
Tellerrand schaute. So fiel es nicht auf, wenn Familien Probleme auf allen
Ebenen hatten, mit dem Schulamt, dem Sozialamt, dem Wohnungsamt, der Polizei.
Die Antwort ist Austausch auf allen Ebenen. Seit November gibt es eine
Arbeitsgruppe Kinder- und Jugendkriminalität von Bezirksamt und Justiz. Ein
„Staatsanwalt vor Ort“ ist für mehrere Tage pro Woche in Neukölln, um
mitzubekommen, wenn ein Mitglied der Familienclans im teuren SUV beim Jobcenter
vorfährt, um sich die Stütze abzuholen.
Der Staat zieht sich
nicht mehr zurück
Im riesigen alten Rathaus
soll die rechte Hand wieder wissen, was die linke macht. Flurfunk ist angesagt.
Bei gemeinsamen Einsätzen sollen die Mitarbeiter der Ämter mitbekommen, was die
anderen machen. „Wir wollen, dass jeder über seinen Schreibtischrand
hinausdenkt“, sagt Giffey. Das bedeute mehr Arbeit, weil jeder über seinen
Zuständigkeitsbereich hinausdenken müsse. „Aber wir müssen es einfach tun.“ Die
Bedenkenträger hätten immer auf den Datenschutz verwiesen, sagt Giffey. „Aber
wir können – Datenschutz hin oder her – viel mehr Wissen teilen.“ Kurz: Der
Staat muss besser organisiert sein als die organisierte Kriminalität.
Und wenn man den
Halbweltgrößen mit dem Strafrecht nicht beikommen kann, hat der Bezirk ja noch
das Ordnungsamt. Im „Cafe easy“ bekommen sie das jetzt zu spüren. Das
Ordnungsamt braucht für seine Gewerbekontrollen, anders als die Polizei, keinen
Durchsuchungsbeschluss. Die Mitarbeiter dürfen überall reingucken. Zum Beispiel
unter der Luke, die hinter der Bar zum Vorratskeller führt. Das ist in Wahrheit
ein beheizter Raum mit mehreren Schlafplätzen. Für die Dame vom Wohnungsamt ist
das nicht nur eine Zweckentfremdung von Gewerbeflächen, sondern auch ein
Hinweis, dass hier Betten an illegale Einwanderer vermietet wurden. Bei dem
Schnauzbartträger hinter der Theke stellt sich heraus, dass er Hartz IV bezieht
– und seine Nebenbeschäftigung dem Jobcenter melden müsste. Toiletten,
Spielautomaten, Speisekarten, Getränke, alles wird überprüft. Die
Sichtschutzfolie im Schaufenster ist höher als erlaubt – ein Gastraum muss
einsehbar sein, besonders in Neukölln. Kurz bevor sie den Laden wieder
verlassen, entdeckt einer der Männer vom Ordnungsamt, dass bei den Gläsern im
Regal der Eichstrich fehlt. Viele kleine Posten für den Bußgeldbescheid. Das
„Cafe easy“ wird amtlich versiegelt. Dann geht die Fahrt weiter, als Nächstes
steht eine Spielhölle an der Hermannstraße auf dem Programm.
Trotz ihrer
patriarchalischen Strukturen seien die „Clans“ keineswegs straff geführte
Organisationen, sagen erfahrene Ermittler. Viele Aktionen würden spontan
begangen, nicht von langer Hand geplant. Gemacht werde, was das schnelle Geld
bringe. Die Polizei spricht deshalb nicht von „Familien“ oder „Clans“, sondern
von „Schwerstkriminalität aus arabischen Strukturen“. In den „Strukturen“
würden Straftaten schlicht als das einfachste Mittel gesehen, um Geld zu
verdienen und sich Reputation zu erarbeiten. Bei ihren Versuchen, ins offene
Geschäft, ins „Hellfeld“ zu wechseln, seien die Familienmitglieder oft
schlechte Kaufleute. Es gebe zwar Familien, die inzwischen internationale
Netzwerke aufgebaut hätten. „Aber insgesamt wird das strategische Bewusstsein
der Strukturen extrem überschätzt“, sagt ein Ermittler. Die medienwirksamen
Aktionen, die offene Provokation der Staatsmacht bringen ihnen am Ende kaum
Vorteile. Anders als die meisten Mafia-Organisationen, die diskret vorgehen,
suchten viele Mitglieder der Clans Prestige und den großen Auftritt, egal um
welchen Preis. Das Muskelspiel steht im Vordergrund.
„Das strategische
Bewusstsein der Clans wird überschätzt“
Darauf bezieht sich das
Signal, das durch Neukölln gehen soll: Der Staat hat die größeren Muskeln. Für
die Mitarbeiter des Ordnungsamts und der anderen Behörden ist es ein seltenes
Vergnügen, auf dem Weg durch die schlecht beleuchteten Seitenstraßen Neuköllns
in der Kolonne mit den Polizeikräften einen machtvollen Auftritt hinzulegen. Im
Alltag ernten sie mit ihren grauen Renault-Dienstfahrzeugen neben den
Oberklasseautos der Halbweltgrößen oft mehr Spott als Respekt.
In der Spielhölle in der
Hermannstraße sind keine Verstöße zu vermelden. Es geht weiter zu einer
Shisha-Bar. Die bekam schon öfter Besuch von den Behörden. Der Betreiber soll
zur Seitenlinie einer bekannten Familie gehören. Eine der vielen Randfiguren,
die vom Mythos der Clans profitieren. In seinem Wohnzimmer halten sie Hof, was
wiederum Gäste anzieht, die sich im Glanz der Gangster sonnen wollen. Die
markieren so ihr Revier. In den Straßen, in denen eine Familie den Ton angibt,
reicht es schon aus, dass eine der Größen einen Stuhl vor ein Café stellt, um
zu demonstrieren, wer hier das Sagen hat.
Ein gutes Dutzend
Polizisten stürmt in die Shisha-Bar. Ein paar junge Männer sitzen auf
orientalisch gemusterten Polsterbänken und blasen mit ihren Wasserpfeifen große
Dampfwolken in die Luft. Was das denn für ein Auftritt sei, ruft der Mann
hinter der Theke. „Wir sind hier doch nicht bei der Mafia!“ Alles Schikane,
sein Laden sei sauber. Das soll heißen: Wir Araber werden mal wieder vom
deutschen Staat diskriminiert. Die Aufforderung eines jungen Polizisten, die
Musik auszumachen, ignoriert er. „Ich habe Gäste hier.“ In einer Ecke sitzt der
junge Spross einer der bekanntesten Familien und beobachtet den Aufruhr
vergnügt. Die besondere Aufmerksamkeit, die ihm die Polizei schenkt, sobald
sein Nachname fällt, ist ihm sichtlich angenehm. Einer seiner Onkel, das
berichtet er gern, sei eine der bekanntesten Figuren der Szene.
Die magere Bilanz des
Einsatzes: ein Spielautomat mit veralteter Software. Bei den Gästen wurde ein
Elektroschocker, ein Teppichmesser und eine Dose Reizgas gefunden. Peanuts in
Neukölln, aber man habe mal wieder „eine Spur gelegt“, sagen die Männer vom
Ordnungsamt. Dann müssen sie eilig weiter. Die Liste, die sie an diesem Abend
noch abarbeiten wollen, ist lang.