"F.A.Z." - Politik, vom Samstag, den 03.03.2018; von Reiner Burger:
Grenzen der Integration
Der „Fall“ der Essener
Tafel ist ein Wendepunkt in der bisher viel zu sehr von Klischees, Utopien und
moralischen Reflexen beherrschten flüchtlingspolitischen Debatte. Kurz sah es
so aus, als würden auch diesmal wieder die üblichen Dominanzmechanismen wirken.
Doch schon während der improvisierten Pressekonferenz des Vereinschefs Jörg
Sartor am Freitag vergangener Woche zerbröselten Weltbilder im Zeitraffer. Der
bodenständige Sartor verstand es nämlich ziemlich gut, den Journalisten sein
Verständnis von Gerechtigkeit zu erklären. Was soll auch verdammungswürdig
daran sein, dass ein privater Verein, angesichts eines Ausländeranteils unter
seinen „Kunden“ von 75 Prozent, dafür Sorge tragen will, dass sich nun zunächst
wieder Nichtmigranten registrieren dürfen?
Wer Sartor zuhörte oder
sich später in den Qualitätsmedien informierte (statt sich im digitalen Reich
der Vorurteile zu verlieren), der weiß also schon seit mehr als einer Woche,
dass bei der Essener Tafel keine Rassisten oder gar Nazis arbeiten, sondern
Leute, die sich aufopferungsvoll im Ehrenamt um Menschen kümmern, die aus
unterschiedlichen Gründen „ganz unten“ angekommen sind. Der weiß, dass die
Tafel mitnichten beschlossen hat, nur noch an Deutsche Lebensmittel auszugeben.
Der weiß, dass es in Essen (wie andernorts auch) ein Problem mit jungen
männlichen Migranten gibt, die keinen Respekt gegenüber älteren Frauen und
Müttern haben.
Der kann also seit mehr als einer Woche wissen, dass es im
„Fall“ Essen darum ging, elementare Regeln zu bestimmen, ohne die friedliches
Miteinander nicht funktioniert und es Gerechtigkeit nicht mehr gibt.
Darwinistische Verdrängung ist das Gegenteil von humaner Ordnung.
Wer das Recht
der Stärkeren walten lässt, organisiert soziale Kälte.
Schon vor einer Woche
also war die Fakten-Grundlage für einen rationalen Diskurs in der Sache gelegt.
Umso absurder ist, dass sich Politiker und sogar hohe Amtsträger noch bis vor
kurzem kenntnisfrei über Sartor und dessen Helfer empörten. Merkwürdig war auch
der Versuch einiger Medien, eine Ablenkungsdebatte über das angebliche Versagen
des deutschen Sozialstaats anzuzetteln.
Nein, der „Fall“ Essen offenbart nicht
das Versagen des Sozialstaats. Denn dieser Staat lässt niemanden verhungern. In
diesem Staat ist auch niemand auf eine Tafel angewiesen, um nicht zu
verhungern.
Anders als in vielen anderen Ländern ist die Grundversorgung
Bedürftiger in Deutschland sichergestellt. Das ist eine großartige
Errungenschaft – und für manche Migranten sogar der Anreiz, nach Deutschland zu
kommen. Selbst wenn diese Menschen dann (eigentlich) nicht bleiben dürfen,
zeigt Deutschland auch ihnen ein freundliches Gesicht.
Womit wir bei der
Kanzlerin wären.
Wie sich Angela Merkel in die Debatte eingeschaltet hat, ist
sehr bedauerlich.
Ausgerechnet ehrenamtlich Tätige, die mehr als zwei Jahre
lang tatkräftig an der Essener Basis dafür Sorge tragen, dass ihre
Wir-schaffen-das-Politik nicht floppt, glaubte die Kanzlerin belehren zu
müssen.
Genau umgekehrt müsste Merkel es halten.
Ein Rendezvous mit der Essener
Wirklichkeit böte ihr die Chance, ein Signal für eine realistische Revision
ihrer Flüchtlings- und Integrationspolitik zu geben.
Das Motto müsste lauten:
"Ich habe verstanden".
Von Sartor und dessen Tafel-Freunden könnte sich Merkel am
lebenspraktischen Beispiel erklären lassen, wieso man Regeln braucht und diese
auch durchsetzen muss, um auf Dauer gerecht zu helfen.
In einem Anschlusstermin
im Essener Rathaus bei ihrem Parteifreund Thomas Kufen könnte sie sich über die
Grenzen der Integrationsfähigkeit unterrichten lassen. Seit Monaten warnt Kufen
vor einer dauerhaften Überforderung der Städte. Hat das bisher wirklich niemand
im Kanzleramt mitbekommen? Allein Essen hat 2015 und 2016 jeweils 4000
Flüchtlinge aufgenommen – mehr als alle ostmitteleuropäischen Staaten zusammen,
mit Zuzügen sind es sogar weit mehr als 20000. „Wir sollten die Grenzen nicht
austesten“, mahnte Kufen schon im Oktober in dieser Zeitung.
Das Beispiel Essen macht
deutlich, dass es darum geht, brisante Verteilungskämpfe zu verhindern. Mit
einer Schweiß-und-Verzicht-Rede an die „aufnehmende Bevölkerung“, die einige
Kommentatoren nun von der Kanzlerin fordern, wird es nicht getan sein.
Entscheidend ist, die Kommunen dauerhaft handlungsfähig zu halten. Gerade im
Ruhrgebiet ist eben das in großer Gefahr. Allein Essen hat mehr als drei
Milliarden Euro Schulden. Die Zinsen müssen nur ein wenig steigen, dann ist
Essen faktisch bankrott und kann sich weder um die Bedürfnisse der
„aufnehmenden Bevölkerung“ noch um die der Flüchtlinge kümmern.
Doch in Berlin scheinen
die allgemein gute Wirtschaftslage und die hohen Steuereinnahmen den Blick auf
die dramatischen Probleme der Ruhr-Kommunen verstellt zu haben.
Ein Besuch in
Essen wäre eine gute Gelegenheit für die Kanzlerin, das nachzuholen, was in den
Koalitionsverhandlungen versäumt wurde: darzulegen, wie Bund und Länder
gedenken die Kommunen von ihren Altschulden zu entlasten.