Deutschland
Aufbruch für
Deutschland
„Weltwoche“ vom Mittwoch, den
27.09.2017; 39/2017
Angela Merkel bleibt Kanzlerin,
aber sonst bleibt nichts beim Alten.
Mit der AfD ziehen keine
geifernden Nazis in den Bundestag ein, sondern mehrheitlich brave Bürger,
wie ein Besuch
auf der Wahlparty zeigt.
Von Wolfgang Koydl
Sogar ein kleines Stückchen
Schweiz hat es zur Wahlparty der Alternative für Deutschland (AfD) geschafft:
Ein Plakat mit zwei Alphörnern klebt neben dem Eingang zum «Traffic Club», den
die Partei für den historischen Abend reserviert hat. Darüber die Frage:
«Direkte Demokratie?», mit der folgenden Antwort: «Volles Rohr wie in der
Schweiz».
Drinnen freilich geht es dann
eher deutsch zu. Das fängt schon beim Veranstaltungsort an: Der «Traffic Club»
liegt am Alexanderplatz, einst das Herz des spiessigen Ostberlins, und er
verströmt den kleinbürgerlichen Charme einer DDR-Disco. Heute wird er
vornehmlich von Russen frequentiert. Offensichtlich sind es keine Oligarchen.
Dann stünden Champagnerflaschen hinter der Bar und nicht drei dichtgestaffelte
Reihen Jim Beam.
Kleinbürgerlich-ostdeutsch also.
Weniger sarkastisch könnte man sagen: gutbürgerlich-deutsch. So gutbürgerlich
wie die Küche in deutschen Landgasthöfen: Hausmannskost, kein Schnickschnack,
solide und vor allem sättigend. Und keiner meckert über das rassistische
«Zigeunerschnitzel» auf der Karte.
Gegeifert wird
nur vor der Tür
Gutbürgerlich sind auch die
AfD-Mitglieder, die in der hoffnungslos überfüllten Disco an runden Stehtischen
auf die erste Hochrechnung warten. Sie entsprechen so ganz und gar nicht dem
Horrorgemälde, das in der Bundesrepublik von dieser Partei gezeichnet wird: als
greise, geifernde Altnazis, assistiert von Glatzköpfen mit Springerstiefeln.
Gegeifert wird nur vor der Tür: «Nazischweine!», rufen Demonstranten den
Gästen zu, bevor diese hinter Polizeiabsperrungen im Gebäude verschwinden.
Drinnen hat sich hier an diesem
Sonntagabend ein Querschnitt der deutschen Gesellschaft versammelt:
Angestellte, Handwerker, Lehrer, mittelständische Unternehmer. Solides
Bürgertum. Leute wie Steffen Kubicki eben. Ein wenig rundlich, mit dunkler
Brille, gepflegtem Haarschnitt und freundlichem Berliner Akzent, ist er der
Prototyp des netten Kollegen, des hilfsbereiten Nachbarn, des Kumpels aus dem
Sportverein, mit dem man gern ein Bier trinken geht. In seiner Freizeit leitet er
einen Chor, mit dem er regelmässig die Tschechische Republik und Polen
besucht. Fremdenfeind? Da verdreht er nur die Augen.
Kubicki sitzt im Landesvorstand
der AfD Brandenburg. Als Spitzenkandidat Alexander Gauland sich durch die Menge
zwängt, macht er einen kleinen Umweg, um den Parteifreund zu begrüssen. Zur
Wahlparty wurde Kubicki eingeladen, weil er besonders hart gerackert hatte im
Wahlkampf. Für den Bundestag hat er selbst nicht kandidiert. «Diesmal nicht»,
wie er ein wenig schüchtern ergänzt. «Vielleicht beim nächsten Mal, denn so
schnell gehen wir nicht mehr weg.»
Er würde ganz gut hineinpassen in
die fast hundertköpfige Fraktion, die nun im Reichstag in Berlin
Abgeordnetenbänke besetzen und Büros beziehen wird. Denn die meisten
Neuparlamentarier sind Bürger wie er, brave Steuerzahler und keine Revoluzzer.
Sie wollen konstruktive Oppositionspolitik machen, wie es Alice Weidel
verspricht, die zweite Spitzenkandidatin. Dazu gehört es, der Regierung auf die
Finger zu sehen und ihr notfalls auch darauf zu klopfen.
Wer sind diese 94 Abgeordneten
der AfD? Einen «gärigen Haufen» nennt Gauland die junge Partei gern:
verschiedene Temperamente mit verschiedenen Meinungen, die sich ungern einer
Parteidisziplin unterordnen. Natürlich gibt es in diesem Haufen Exemplare, die
dem Bild der veröffentlichten Meinung entsprechen: Einer steht als Hooligan vor
Gericht, ein anderer wird vom Verfassungsschutz observiert, ein Dritter
denunzierte Grüne als «Koksnasen» und die Kanzlerin als «Kampf-Fuchtel». Auch
Kubicki gibt hinter vorgehaltener Hand zu, dass sich ihm bei einigen
Äusserungen von Parteikollegen der Magen umgedreht habe. Und das schliesst
Gauland ein.
Aber ihnen stehen andere
gegenüber: die kühle Businessfrau Weidel etwa, der Ex-Radiomoderator Leif-Erik
Holm, der als Oppositionsführer in Mecklenburg-Vorpommern auch den politischen
Gegner mit solider Arbeit überrascht. Da gibt es Armin-Paul Hampel, früher
ARD-Korrespondent in Südostasien, oder die Rechtsanwältin Mariana
Harder-Kühnel, die als weibliche Zukunftshoffnung gilt.
Meister
schiefer Bilder
Sie wollen nicht krakeelen und
blockieren, sondern mitgestalten. Und sie wollen dazu beitragen, den Bundestag
wieder zu einem «Resonanzboden» der deutschen Gesellschaft zu machen, wie es
Gauland angekündigt hat – ein Parlament, in dem gestritten und um Lösungen
gerungen wird. Wie notwendig das ist, haben die letzten lähmenden vier Jahre
der grossen Koalition gezeigt, als das Parlament kein einziges wichtiges Thema
kontrovers debattiert hatte. «Alles eine Sauce – und eine ungeniessbare
obendrein», urteilt Ulrike Meier, die heute zusammen mit Kubicki aus ihrem
Wahlkreis nach Berlin gekommen ist.
Allerdings gehören zu grossen
Debatten auch grosse Redner, und die sind im deutschen Parlament Mangelware.
Die meisten Redebeiträge stolpern einschläfernd im holperigen
Bürokratendeutsch vor sich hin – die Kanzlerin macht es schliesslich am besten
vor. Auch die AfD ist nicht gerade eine Talentschmiede für rhetorischen
Nachwuchs.
Das gilt auch für Gauland. Er ist
ein Meister schiefer Bilder, und eines verwendete er in seiner Rede am
Wahlabend. Es war seine Mahnung an die Mitglieder, keine «dummen Sprüche» zu
machen, die «uns auf die Füsse fallen können». Die Mainstream-Medien nahmen
kaum Notiz von dieser Aussage, obwohl sie das wichtigste Indiz dafür ist, dass
die AfD, die schon viele Häutungsprozesse durchlaufen hat, nun abermals in ein
neues Gewand schlüpfen will: vom Radau zur Realpolitik. Zur neuen Seriosität
wird sicherlich beitragen, was der Partei nun amtlich zusteht: Sie hat
Anspruch auf Millionen von Euros, auf Hunderte von wissenschaftlichen
Mitarbeitern, auf den Vorsitz in Parlamentsausschüssen und auf das Amt eines
Vizepräsidenten. Auch im «Traffic Club» in Berlin kreisen die Gespräche denn
auch sehr schnell um künftige Posten und um Geld, kaum dass der erste Jubel
abgeklungen ist.
Dennoch fällt es den etablierten
Parteien und Medien schwer, anzuerkennen, was sich in Deutschland ereignet hat:
Hier ist eine neue Volkspartei entstanden, die nicht nur im Osten gut
abgeschnitten hat, sondern auch in Bayern oder Nordrhein-Westfalen.
Untersuchungen haben ergeben, dass rund ein Drittel aller Wähler die Ansichten
der AfD teilt. Diesmal haben sie ihr Kreuz noch nicht bei der Alternative
gemacht. Aber es sind die potenziellen Wähler von morgen.
Doch Deutschland reibt sich noch
immer die Augen, wie so etwas geschehen konnte. Denn es ist ja nicht nur so,
dass erstmals eine «Partei rechts von der Union» ins Parlament gekommen ist.
Viel entscheidender ist, wie sie diese Hürde genommen hat: quasi aus dem Stand
mit einem zweistelligen Ergebnis.
Schon früher haben neue Parteien
das bundesrepublikanische Dreiersystem aus Union, SPD und FDP gesprengt: Erst
waren es die Grünen, dann die Linkspartei. Doch beide mussten sich mühsam von
Wahl zu Wahl eine stetig grössere Nische im Wählertopf herauskratzen. Im ersten
Anlauf hatten sie kaum mehr als fünf Prozent der Wählerstimmen geholt. Auch
später waren Resultate über zehn Prozent für die kleinen Parteien stets eine
bejubelte Ausnahme, nie die Regel. Und jetzt kommen diese «Rechtspopulisten»
daher und schliessen gleich im ersten Anlauf fast schon zur SPD auf?
Beklommen fragt sich die
Republik, wie diese Alternative nun das Land und seine Politik verändern wird.
Dabei ist die Antwort ganz einfach: Sie hat das Land schon verändert, denn die
AfD ist nur der sichtbare Ausdruck davon, wie sehr sich das ganze Land
gewandelt hat. Deutschland ist nach rechts gerückt – nicht wegen der AfD, wie
gerne behauptet wird, sondern wegen des Dünkels der alten Parteien gegenüber
den Sorgen der Bürger. Die Partei ist nur die Antwort auf diese
gesellschaftliche Entwicklung. Die anderen Parteien werden sich an ihr
orientieren müssen, und sie haben damit auch schon angefangen, namentlich in
der Flüchtlingsfrage.
Koalition aus
disparaten Parteien
Mit ihrem Einzug als
drittstärkste Kraft in den Bundestag hat die AfD auch die Polit-Arithmetik
durcheinandergewirbelt. Für die üblichen Zweier- oder Dreierbündnisse reicht es
nicht mehr. So ist es alles andere als sicher, ob es Angela Merkel gelingen
wird, eine Koalition aus vier disparaten Parteien zu schmieden. Ganz zu
schweigen von der Frage, wie haltbar ein solches Bündnis ist. Es ist nicht
auszuschliessen, dass es bald vorgezogene Neuwahlen gibt, bei denen die
Siegerin abermals die AfD sein dürfte. Spätestens dann wird man mit ihr reden
und sie in eine Koalition aufnehmen müssen. Vermutlich findet die nächste
Wahlparty dann auch nicht mehr im «Traffic Club» statt.