Nicole Rütti Ruzicic und Heidi Gmür, beide von der "NZZ" gewidmet
Wachstum und Produktivität - Panikmache mit falschen Zahlen
Gastkommentar von Reiner Eichenberger
"NZZ" vom Donnerstag, den 07.09.2017
Immer wieder berichten Medien und Verwaltungsstellen über drei Probleme der Schweizer Wirtschaft:
Grund zur Beunruhigung? Nein!
Die Daten sind irrelevant. Das reale Bruttoinlandprodukt (BIP) misst die deflationierte Summe aller in der Schweiz produzierten Güter und Dienstleistungen. Daraus wird dann die Arbeitsproduktivität abgeleitet, indem das BIP durch alle geleisteten Arbeitsstunden dividiert wird. Sodann wird für internationale Vergleiche alles mit kaufkraftbereinigten Wechselkursen umgerechnet.
Das ist internationaler Standard – aber für die Schweiz irreführend.
Das langfristige Wachstum von Schweizer BIP und Produktivität ist, in Franken gemessen, tatsächlich tief. Doch das macht nichts. Denn der Massstab Franken wächst ja permanent und stark. Damit wachsen auch der internationale Wert des BIP und somit unsere Konsummöglichkeiten sowie die reale Arbeitsproduktivität.
Die gängigen Statistiken spiegeln diese Wechselkurseffekte nicht vollauf, obwohl sie deflationiert und kaufkraftbereinigt sind. Denn die Kaufkraftbereinigung wird in aller Regel für ein bestimmtes frühes Stichjahr geschätzt und danach konstant gehalten; so kommt der Fehler in die Daten:
Sie vernachlässigen, dass der Schweizerfranken über die Jahre systematisch aufwertet und so unser BIP an Wert gewinnt. Zur Behebung des Fehlers müssten laufende, jährlich aufdatierte Kaufkraftparitäten verwendet werden. Gemäss solchen Daten der OECD wuchs nach meiner Berechnung das Pro-Kopf-Einkommen in der Schweiz von 2000 bis 2016 um 32,2 Prozent, in Deutschland um 30,9, in Österreich um 25,7, in den Niederlanden um 18,9, in Frankreich um 17,6, in den USA um 15,6 und in Italien um 3,3 Prozent.
Die Schweiz ist also nicht nur eine Wohlstands-, sondern auch eine Wachstumsinsel. Entsprechend stark war auch das Produktivitätswachstum.
Auch die offiziellen Daten zum Niveau der Arbeitsproduktivität sind irreführend. Die Produktivität, gemessen als BIP pro Arbeitsstunde, hängt stark davon ab, wer arbeitet.
Je stärker leistungsschwächere Menschen durch Steuern, Abgaben und unsinnige Regulierungen arbeitslos, sozialfällig oder invalidisiert werden, desto höher ist die gemessene gesellschaftliche Produktivität. Entsprechend wird die wahre Produktivität in Ländern mit schlechter Politik überschätzt, in der Schweiz hingegen wird sie unterschätzt.
Wichtig ist auch, was als Arbeit gilt. Die Arbeitsstunden von Lehrlingen beispielsweise zählen statistisch als Arbeit, diejenigen von Berufsschülern dagegen nicht. Dementsprechend ist die Arbeitsproduktivität der Schweiz nur schon wegen des dualen Bildungssystems mit Ausbildung auf dem Beruf statt in Schulen um etwa vier Prozent nach unten verzerrt.
Die Diskussion zur Deindustrialisierung leidet ebenfalls an Daten-Unsinn. Denn die Zahl der Industriearbeitsplätze nimmt nicht nur ab, wenn Arbeitsplätze aufgehoben oder ins Ausland verschoben werden.
Wichtiger dürfte sein, dass immer mehr Arbeiten, etwa in den Bereichen Reinigung, Verpflegung, Buchhaltung, Steuererklärung, Informatik usw., ausgelagert werden. Wenn solche Funktionen von Industriebetrieben an spezialisierte Anbieter ausgelagert werden, sinkt der Industrieanteil – weil die Jobs vor der Auslagerung als Industrie- und danach als Dienstleistungsarbeitsplätze in die Statistik eingehen.
Manche hoffen, die falschen alarmistischen Zahlen erhöhten wenigstens die Reformbereitschaft.
Das sehe ich anders: Erstens motivieren falsche Zahlen selten. Viele Bürger spüren den Widerspruch zwischen den falschen Zahlen und der besseren Realität und verlieren das Vertrauen in die Medien und in die amtliche Statistik. Zweitens verleiten die falschen Zahlen zu falschen Schlüssen. So wird die Schuld an dem vermeintlich tiefen Produktivitätswachstum regelmässig den «geschützten Binnenbranchen» und vor allem der Landwirtschaft gegeben. Doch der negative Effekt der Landwirtschaft wäre angesichts ihres kleinen Anteils an der Gesamtbeschäftigung von rund drei Prozent im Extremfall – wenn sie keinerlei Wertschöpfung hätte – immer noch kleiner als der Effekt der Lehrlingsfehlrechnung. [haben Sie das gelesen, Frau Heidi Gmür von der „NZZ“ in Bern?]
Weshalb interpretieren die Medien und viele Experten die Produktivitätszahlen so falsch? Nett gesagt, gerade wegen ihrer hohen Kompetenz. ...
[sehr freundlich gesagt:
Frau Nicole Rütti-Ruzicic und Frau Heidi Gmür, je von der „NZZ“ unterlassen keine Gelegenheit, die wirtschaftliche Situation der Schweiz schlecht zu machen.
Frau Rütti pflegt aus dem geringen BIP-Wachstum abzuleiten, dass es an Zuwanderung fehle.
Frau Heidi Gmür lässt keine guten Faden an unserer Landwirtschaft. Diese ist schuld an der im Vergleich zu Deutschland und den USA geringeren Arbeitsproduktivität.
Frau Gmür will auf Teufel komm raus die Preise für landwirtschaftliche Produkte senken. Sinken die Preise, dann müssen auch die Löhne sinken – vor allem bei der „NZZ“, die sich der freien Marktwirtschaft verschrieben hat.]
... Sie handeln nach internationalen Standards und lesen die internationale Fachliteratur. Das Problem dabei ist nur, dass weltweit ausser der Schweiz kein Land eine permanent aufwertende Währung hat. Folglich sagt die internationale Literatur nur wenig über die erwähnten Zusammenhänge. Genauso ist auch die gängige internationale Praxis ganz vernünftig – ausser für die Schweiz. Deshalb ist es höchste Zeit, dass die Medien und Amtsstellen vermehrt die schweizerischen Besonderheiten berücksichtigen.
Reiner Eichenberger ist Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg und Forschungsdirektor von Crema.
Gastkommentar von Reiner Eichenberger
"NZZ" vom Donnerstag, den 07.09.2017
Immer wieder berichten Medien und Verwaltungsstellen über drei Probleme der Schweizer Wirtschaft:
- Die Arbeitsproduktivität sei tief und wachse langsam,
- das Wachstum des Bruttoinlandprodukts pro Kopf sei tief,
- und es drohe Deindustrialisierung.
Grund zur Beunruhigung? Nein!
Die Daten sind irrelevant. Das reale Bruttoinlandprodukt (BIP) misst die deflationierte Summe aller in der Schweiz produzierten Güter und Dienstleistungen. Daraus wird dann die Arbeitsproduktivität abgeleitet, indem das BIP durch alle geleisteten Arbeitsstunden dividiert wird. Sodann wird für internationale Vergleiche alles mit kaufkraftbereinigten Wechselkursen umgerechnet.
Das ist internationaler Standard – aber für die Schweiz irreführend.
Das langfristige Wachstum von Schweizer BIP und Produktivität ist, in Franken gemessen, tatsächlich tief. Doch das macht nichts. Denn der Massstab Franken wächst ja permanent und stark. Damit wachsen auch der internationale Wert des BIP und somit unsere Konsummöglichkeiten sowie die reale Arbeitsproduktivität.
Die gängigen Statistiken spiegeln diese Wechselkurseffekte nicht vollauf, obwohl sie deflationiert und kaufkraftbereinigt sind. Denn die Kaufkraftbereinigung wird in aller Regel für ein bestimmtes frühes Stichjahr geschätzt und danach konstant gehalten; so kommt der Fehler in die Daten:
Sie vernachlässigen, dass der Schweizerfranken über die Jahre systematisch aufwertet und so unser BIP an Wert gewinnt. Zur Behebung des Fehlers müssten laufende, jährlich aufdatierte Kaufkraftparitäten verwendet werden. Gemäss solchen Daten der OECD wuchs nach meiner Berechnung das Pro-Kopf-Einkommen in der Schweiz von 2000 bis 2016 um 32,2 Prozent, in Deutschland um 30,9, in Österreich um 25,7, in den Niederlanden um 18,9, in Frankreich um 17,6, in den USA um 15,6 und in Italien um 3,3 Prozent.
Die Schweiz ist also nicht nur eine Wohlstands-, sondern auch eine Wachstumsinsel. Entsprechend stark war auch das Produktivitätswachstum.
Auch die offiziellen Daten zum Niveau der Arbeitsproduktivität sind irreführend. Die Produktivität, gemessen als BIP pro Arbeitsstunde, hängt stark davon ab, wer arbeitet.
Je stärker leistungsschwächere Menschen durch Steuern, Abgaben und unsinnige Regulierungen arbeitslos, sozialfällig oder invalidisiert werden, desto höher ist die gemessene gesellschaftliche Produktivität. Entsprechend wird die wahre Produktivität in Ländern mit schlechter Politik überschätzt, in der Schweiz hingegen wird sie unterschätzt.
Wichtig ist auch, was als Arbeit gilt. Die Arbeitsstunden von Lehrlingen beispielsweise zählen statistisch als Arbeit, diejenigen von Berufsschülern dagegen nicht. Dementsprechend ist die Arbeitsproduktivität der Schweiz nur schon wegen des dualen Bildungssystems mit Ausbildung auf dem Beruf statt in Schulen um etwa vier Prozent nach unten verzerrt.
Die Diskussion zur Deindustrialisierung leidet ebenfalls an Daten-Unsinn. Denn die Zahl der Industriearbeitsplätze nimmt nicht nur ab, wenn Arbeitsplätze aufgehoben oder ins Ausland verschoben werden.
Wichtiger dürfte sein, dass immer mehr Arbeiten, etwa in den Bereichen Reinigung, Verpflegung, Buchhaltung, Steuererklärung, Informatik usw., ausgelagert werden. Wenn solche Funktionen von Industriebetrieben an spezialisierte Anbieter ausgelagert werden, sinkt der Industrieanteil – weil die Jobs vor der Auslagerung als Industrie- und danach als Dienstleistungsarbeitsplätze in die Statistik eingehen.
Manche hoffen, die falschen alarmistischen Zahlen erhöhten wenigstens die Reformbereitschaft.
Das sehe ich anders: Erstens motivieren falsche Zahlen selten. Viele Bürger spüren den Widerspruch zwischen den falschen Zahlen und der besseren Realität und verlieren das Vertrauen in die Medien und in die amtliche Statistik. Zweitens verleiten die falschen Zahlen zu falschen Schlüssen. So wird die Schuld an dem vermeintlich tiefen Produktivitätswachstum regelmässig den «geschützten Binnenbranchen» und vor allem der Landwirtschaft gegeben. Doch der negative Effekt der Landwirtschaft wäre angesichts ihres kleinen Anteils an der Gesamtbeschäftigung von rund drei Prozent im Extremfall – wenn sie keinerlei Wertschöpfung hätte – immer noch kleiner als der Effekt der Lehrlingsfehlrechnung. [haben Sie das gelesen, Frau Heidi Gmür von der „NZZ“ in Bern?]
Weshalb interpretieren die Medien und viele Experten die Produktivitätszahlen so falsch? Nett gesagt, gerade wegen ihrer hohen Kompetenz. ...
[sehr freundlich gesagt:
Frau Nicole Rütti-Ruzicic und Frau Heidi Gmür, je von der „NZZ“ unterlassen keine Gelegenheit, die wirtschaftliche Situation der Schweiz schlecht zu machen.
Frau Rütti pflegt aus dem geringen BIP-Wachstum abzuleiten, dass es an Zuwanderung fehle.
Frau Heidi Gmür lässt keine guten Faden an unserer Landwirtschaft. Diese ist schuld an der im Vergleich zu Deutschland und den USA geringeren Arbeitsproduktivität.
Frau Gmür will auf Teufel komm raus die Preise für landwirtschaftliche Produkte senken. Sinken die Preise, dann müssen auch die Löhne sinken – vor allem bei der „NZZ“, die sich der freien Marktwirtschaft verschrieben hat.]
... Sie handeln nach internationalen Standards und lesen die internationale Fachliteratur. Das Problem dabei ist nur, dass weltweit ausser der Schweiz kein Land eine permanent aufwertende Währung hat. Folglich sagt die internationale Literatur nur wenig über die erwähnten Zusammenhänge. Genauso ist auch die gängige internationale Praxis ganz vernünftig – ausser für die Schweiz. Deshalb ist es höchste Zeit, dass die Medien und Amtsstellen vermehrt die schweizerischen Besonderheiten berücksichtigen.
Reiner Eichenberger ist Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg und Forschungsdirektor von Crema.