Volk und Wahl
„Weltwoche“ vom Mittwoch, den 27.09.2017;
39/2017 Die «vornehmste Bürgerpflicht».
Von Henryk M. Broder
Ganz am Ende des Wahlkampfs und
kurz vor der Öffnung der Wahllokale meldete sich auch noch der deutsche Bundespräsident zu Wort. Das Wahlrecht, verkündete Frank-Walter
Steinmeier ex cathedra, sei «in einer Demokratie vornehmste Bürgerpflicht»,
deswegen sollten die Bürger und Bürgerinnen zur Wahl gehen. So redet ein Gutsherr
zum Gesinde, das alle paar Jahre ein Fest feiern darf. Es gibt keine
Wahlpflicht in Deutschland, nur ein Wahlrecht. Wie die Religionsfreiheit das
Recht einschliesst, keiner Religion anzugehören, gehört zum Wahlrecht auch das
Recht auf Wahlenthaltung, egal aus welchen Gründen. Die «vornehmste» – und im Grunde einzige – Pflicht der Bürger ist es,
sich an die geltenden Gesetze zu halten. Man könnte allenfalls noch
hinzufügen: die Steuern zu zahlen und innerorts nicht schneller als erlaubt zu
fahren. Alles Übrige ist Ansichts- und Geschmackssache.
Wer nicht wählen gehe, so
Steinmeier, lasse andere «über die Zukunft unseres Landes» entscheiden – etwa
darüber, «wie es weitergeht bei Arbeit und Wirtschaft, Bildung und Gesundheit,
Pflege und Alterssicherung, in der Flüchtlingspolitik und bei der Integration,
bei innerer und äusserer Sicherheit, bei Klima und Umwelt». Was unser
Bundespräsident unter den Tisch fallen liess: Zu den entscheidenden Fragen der letzten Legislaturperiode –
Energiewende, Flüchtlingspolitik und Griechenlandrettung – ist das Volk nicht
befragt worden, «andere» haben Entscheidungen getroffen, mit denen das Volk
mitnichten einverstanden war.
Und noch etwas hat der deutsche
Bundespräsident bei der Auflistung der relevanten Themen vergessen: die Frage, ob es für eine Demokratie nicht besser
wäre, den Bundespräsidenten direkt vom Volk wählen zu lassen, statt von einer
«Bundesversammlung», die zur Hälfte aus Wahlfrauen und -männern besteht, die
von den Parteien für diesen Einmaljob nominiert werden, ohne jede
demokratische Legitimation, als Dank für ihre öffentlich bekundeten
Sympathien zu der einen oder anderen Partei, darunter Sportler, Schauspieler
und «Promis» aller Klassen.
Die
Wahlbeteiligung lag in diesem Jahr bei 75% und damit um 3,5% höher als 2013.
Dank der Alternative für Deutschland, die Nichtwähler für sich gewinnen konnte. Aber so hat
es der Bundespräsident bestimmt nicht gemeint, als er «Gehet wählen!» rief.