Samstag, 3. März 2018

Merkel versagt! Ihr Verhalten gegenüber der Essener-Tafel ist völlig daneben

Frau Merkels Botschaft nach „Essen“ müsste lauten: "Ich habe verstanden".

"F.A.Z." - Politik, vom Samstag, den 03.03.2018; von Reiner Burger:
 
Grenzen der Integration

Der „Fall“ der Essener Tafel ist ein Wendepunkt in der bisher viel zu sehr von Klischees, Utopien und moralischen Reflexen beherrschten flüchtlingspolitischen Debatte. Kurz sah es so aus, als würden auch diesmal wieder die üblichen Dominanzmechanismen wirken. Doch schon während der improvisierten Pressekonferenz des Vereinschefs Jörg Sartor am Freitag vergangener Woche zerbröselten Weltbilder im Zeitraffer. Der bodenständige Sartor verstand es nämlich ziemlich gut, den Journalisten sein Verständnis von Gerechtigkeit zu erklären. Was soll auch verdammungswürdig daran sein, dass ein privater Verein, angesichts eines Ausländeranteils unter seinen „Kunden“ von 75 Prozent, dafür Sorge tragen will, dass sich nun zunächst wieder Nichtmigranten registrieren dürfen?

Wer Sartor zuhörte oder sich später in den Qualitätsmedien informierte (statt sich im digitalen Reich der Vorurteile zu verlieren), der weiß also schon seit mehr als einer Woche, dass bei der Essener Tafel keine Rassisten oder gar Nazis arbeiten, sondern Leute, die sich aufopferungsvoll im Ehrenamt um Menschen kümmern, die aus unterschiedlichen Gründen „ganz unten“ angekommen sind. Der weiß, dass die Tafel mitnichten beschlossen hat, nur noch an Deutsche Lebensmittel auszugeben.
Der weiß, dass es in Essen (wie andernorts auch) ein Problem mit jungen männlichen Migranten gibt, die keinen Respekt gegenüber älteren Frauen und Müttern haben. 
Der kann also seit mehr als einer Woche wissen, dass es im „Fall“ Essen darum ging, elementare Regeln zu bestimmen, ohne die friedliches Miteinander nicht funktioniert und es Gerechtigkeit nicht mehr gibt. Darwinistische Verdrängung ist das Gegenteil von humaner Ordnung.
Wer das Recht der Stärkeren walten lässt, organisiert soziale Kälte.

Schon vor einer Woche also war die Fakten-Grundlage für einen rationalen Diskurs in der Sache gelegt. Umso absurder ist, dass sich Politiker und sogar hohe Amtsträger noch bis vor kurzem kenntnisfrei über Sartor und dessen Helfer empörten. Merkwürdig war auch der Versuch einiger Medien, eine Ablenkungsdebatte über das angebliche Versagen des deutschen Sozialstaats anzuzetteln.
Nein, der „Fall“ Essen offenbart nicht das Versagen des Sozialstaats. Denn dieser Staat lässt niemanden verhungern. In diesem Staat ist auch niemand auf eine Tafel angewiesen, um nicht zu verhungern. 
Anders als in vielen anderen Ländern ist die Grundversorgung Bedürftiger in Deutschland sichergestellt. Das ist eine großartige Errungenschaft – und für manche Migranten sogar der Anreiz, nach Deutschland zu kommen. Selbst wenn diese Menschen dann (eigentlich) nicht bleiben dürfen, zeigt Deutschland auch ihnen ein freundliches Gesicht.

Womit wir bei der Kanzlerin wären.
Wie sich Angela Merkel in die Debatte eingeschaltet hat, ist sehr bedauerlich.
Ausgerechnet ehrenamtlich Tätige, die mehr als zwei Jahre lang tatkräftig an der Essener Basis dafür Sorge tragen, dass ihre Wir-schaffen-das-Politik nicht floppt, glaubte die Kanzlerin belehren zu müssen.
Genau umgekehrt müsste Merkel es halten.

Ein Rendezvous mit der Essener Wirklichkeit böte ihr die Chance, ein Signal für eine realistische Revision ihrer Flüchtlings- und Integrationspolitik zu geben.
Das Motto müsste lauten: "Ich habe verstanden". 
Von Sartor und dessen Tafel-Freunden könnte sich Merkel am lebenspraktischen Beispiel erklären lassen, wieso man Regeln braucht und diese auch durchsetzen muss, um auf Dauer gerecht zu helfen. 

In einem Anschlusstermin im Essener Rathaus bei ihrem Parteifreund Thomas Kufen könnte sie sich über die Grenzen der Integrationsfähigkeit unterrichten lassen. Seit Monaten warnt Kufen vor einer dauerhaften Überforderung der Städte. Hat das bisher wirklich niemand im Kanzleramt mitbekommen? Allein Essen hat 2015 und 2016 jeweils 4000 Flüchtlinge aufgenommen – mehr als alle ostmitteleuropäischen Staaten zusammen, mit Zuzügen sind es sogar weit mehr als 20000. „Wir sollten die Grenzen nicht austesten“, mahnte Kufen schon im Oktober in dieser Zeitung.

Das Beispiel Essen macht deutlich, dass es darum geht, brisante Verteilungskämpfe zu verhindern. Mit einer Schweiß-und-Verzicht-Rede an die „aufnehmende Bevölkerung“, die einige Kommentatoren nun von der Kanzlerin fordern, wird es nicht getan sein. Entscheidend ist, die Kommunen dauerhaft handlungsfähig zu halten. Gerade im Ruhrgebiet ist eben das in großer Gefahr. Allein Essen hat mehr als drei Milliarden Euro Schulden. Die Zinsen müssen nur ein wenig steigen, dann ist Essen faktisch bankrott und kann sich weder um die Bedürfnisse der „aufnehmenden Bevölkerung“ noch um die der Flüchtlinge kümmern.

Doch in Berlin scheinen die allgemein gute Wirtschaftslage und die hohen Steuereinnahmen den Blick auf die dramatischen Probleme der Ruhr-Kommunen verstellt zu haben.

Ein Besuch in Essen wäre eine gute Gelegenheit für die Kanzlerin, das nachzuholen, was in den Koalitionsverhandlungen versäumt wurde: darzulegen, wie Bund und Länder gedenken die Kommunen von ihren Altschulden zu entlasten.

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