Was die EU an der Schweiz hat
Von Gerhard Schwarz
„F.A.Z.“ – „Die Ordnung der Wirtschaft“, vom Freitag, den
28.07.2017
Lebensfähig ist der eigenständige Kleinstaat nur im Einvernehmen
mit der großen EU. Den Nutzen haben beide. [Lebensfähig blieb die Schweiz unter grossen Einschränkungen auch in den Jahren ab 1933, vor allem aber in den Jahren von 1939 bis 1945, während der Zeit des deutschen Dritten Reiches. Einen Nutzen hatten damals auch beide.]
Seit Jahrhunderten geht die Schweiz auf dem europäischen Kontinent
einen eigenen Weg. Besonders sichtbar gemacht hat sie dies mit dem Nein von
Volk und Ständen zum Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) im Jahr
1992. Auch andere Abstimmungsergebnisse, etwa das knappe Ja zur sogenannten
Masseneinwanderungsinitiative 2014, waren Ausdruck dieser Eigenwilligkeit. Sie
ist innerhalb wie außerhalb des Landes immer wieder Anfechtungen ausgesetzt.
Klar aber ist, dass ein Beitritt der Schweiz zur EU derzeit laut Umfragen nur
von 16 Prozent der Bevölkerung unterstützt wird.
Dieses runde Sechstel leidet an der Idee einer kleinen, feinen
Schweiz, die sich wenig um die Weltpolitik kümmert, aber alles daransetzt, das
eigene Haus in Ordnung und als Standort für Arbeit, Kapital und Wissen
attraktiv zu halten. „Wir wollen doch nicht zum Monaco Europas verkommen!“,
schleudern sie einem entgegen und suggerieren, Monaco, San Marino oder Andorra
seien keine souveränen, vollwertigen Staaten. Aber was wäre denn an diesem Monaco
Europas so schrecklich? Leben die Bürgerinnen und Bürger Monacos schlecht? Und
wie sieht es in Hongkong oder Singapur aus? Zwar sind beide wahrlich keine
Aushängeschilder politischer Freiheiten, aber im einen Fall werden die Rechte
von „außen“, von Peking, beschnitten, im anderen vom eigenen Regime, und in den
Nachbarländern sieht es nirgends besser aus. Die Integration in ein größeres
Ganzes brächte also sicher nicht mehr politische Freiheit und Mitbestimmung und
kostete dazu noch einigen Wohlstand.
Will man den Willen der Mehrheit der Schweizer zur Eigenständigkeit verstehen, muss man Freiheit und Selbstbestimmungsrecht des Bürgers, die in der Schweiz zentral sind, gedanklich vom Selbstbestimmungsrecht des Staates als Ganzem trennen. Bei Letzterem geht es um die Souveränität des Landes und seine Einfluss- und Mitgestaltungsmöglichkeiten in der internationalen Politik. Wer in erster Linie dieses Handeln des Staates im Auge hat, wird das Individuum leicht vergessen und die Organisation eines Landes vielleicht sogar als lästig empfinden. Wer dagegen Freiheit und Wohlergehen des Einzelnen anstrebt, muss sich zwar auch um die Rolle des Landes in der Welt sorgen, wird aber vor allem die innere Verfassung des Staates, die Gestaltung des Zusammenlebens und der staatlichen Institutionen sowie das Verhältnis von Bürger und Staat, im Auge behalten.
„Cui bono?“, lautet die Schlüsselfrage.
Wem nützt ein unabhängiger Kleinstaat Schweiz?
Und welcher Preis ist dafür zu bezahlen?
Aus liberaler Sicht fällt die Antwort leicht: Die staatliche Souveränität muss für den Bürger da sein, nicht der Bürger für die Souveränität. Sie ist nur relevant mit Blick auf die Sicherung der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger sowie die Erhaltung und Mehrung des Wohlstands. Staatliche Souveränität, die diesen Zielen dient, ist erstrebenswert. Wo dagegen der Verzicht auf sie dem Individuum mehr Freiheit und Wohlstand bringt, kann sie geopfert werden. [Eine gefährliche Gegenüberstellung. Woran denkt der FDP-Mann Schwarz konkret?] Daher wird der liberal denkende Mensch lieber im begrenzt souveränen Fürstentum Monaco leben als in der souveränen Volksrepublik China. [ein völlig schiefer Vergleich, Herr Schwarz] Auch eine formell unabhängige, de facto aber beschränkt souveräne [werden Sie konkret, Herr Schwarz] Schweiz inmitten Europas muss aus liberaler Sicht kein Übel, sondern kann ein Segen sein, für die Bevölkerung des Landes ebenso wie für die des restlichen Europas.
Wie also steht es um die Lebensfähigkeit eines solchen Kleinstaates?
Und welche Rolle könnte er im Gesamtgefüge spielen?
Bis 1989 hätte sich die Frage nach der Daseinsberechtigung von Kleinstaaten nicht so eindeutig beantworten lassen. Der Glaube an „Economies of scale“ beherrschte Politik wie Wirtschaft. Ernst Friedrich Schumachers „Small is beautiful“ und Leopold Kohrs „Disunion now“ waren Minderheitenprogramme. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. In der Wirtschaft rief die Tatsache, dass in der Finanzkrise vermeintlich krisenresistente Großbanken untergegangen wären, wenn sie der Staat nicht gerettet hätte, den Charme der Kleinheit in Erinnerung. Und in der Politik, wo der Fall des Eisernen Vorhangs eine Kleinstaateninflation brachte, eilten viele Kleinstaaten von Erfolg zu Erfolg. Ob man das Pro-Kopf-Einkommen, die Wettbewerbsfähigkeit, die Innovationslust, die Lebensqualität oder gar das Glück misst, die vordersten Plätze gehören – abgesehen von den Vereinigten Staaten – Kleinstaaten. Kleinheit bedeutet Bürgernähe und Nähe zu den Problemen. Das hilft, Herausforderungen anzugehen.
Die Schweiz zählt zu den erfolgreichsten Staaten überhaupt. Sie
ist wettbewerbsfähig, ihre makroökonomischen Kennzahlen sind besser und
nachhaltiger als die der meisten Mitbewerber, ihre Waren und Dienstleistungen,
einschließlich der Verkehrswege, die das Land queren, sind gefragt, und sie hat
sich in der Geschichte immer wieder neuen Bedürfnissen anzupassen vermocht.
Zudem ist das politische System mit direkter Demokratie, Föderalismus,
Milizkultur und Konkordanz ein einzigartiges Beispiel des Zusammenlebens
unterschiedlicher Kulturen und Religionen in einer Willensnation. Dieses Land
schafft also vieles aus eigener Kraft und könnte sich in einer Welt ohne Handelsbarrieren,
Machtgefälle, Schikanen oder demonstratives Desinteresse der Großmächte an den
Kleinstaaten gut behaupten.
In der realen Welt hängt die Lebensfähigkeit allerdings nie nur
von der eigenen Tüchtigkeit ab. Kleinstaaten können in Anlehnung an Schillers
„Wilhelm Tell“ nur in „Frieden“ leben, wenn es den Nachbarn gefällt, wenn also
die EU dem sperrigen Kleinstaat Schweiz mit Respekt begegnet, ihn nicht als
Trittbrettfahrer [als Rosinenpicker] oder Störenfried empfindet und ihn nicht als „quantité
négligeable“ behandelt. Sonst kann alle Anstrengung des Kleinstaates umsonst
sein. Diese Erkenntnis hat zumal bei professionellen Schweizer Außenpolitikern
zur depressiven Überzeugung geführt, der eigenständige Weg sei, da man ja nicht
wirklich autonom sei, verbaut, sodass nichts anderes übrigbleibe, als der EU
beizutreten. Doch Kleinheit ist kein Grund zur Schwermut, solange man sich
nicht zu sehr mit den Großen messen will. Wenn man akzeptiert, dass Kleinheit
und Eigenständigkeit neben den Nachteilen auch viele Vorteile haben, fällt es
leichter, mit ihnen zu leben.
So oder so sollte klar sein, dass ein selbständiger Kleinstaat in
Europa nicht überleben könnte, wenn es die EU nicht wollte. [Nach der Niederlage Napoléons in den Koalitionskriegen wurde am Wiener-Kongress 1814/1815 die Souveränität der Schweiz anerkannt, weil keine der europäischen Grossmächte - Österreich-Ungarn, Deutschland, Italien - einer anderen den Besitz der zentralen Alpenpässe überlassen wollte. Einen bis heute entscheidenden Einfluss auf die weitere Geschichte der
Schweiz hatte die Anerkennung der immerwährenden bewaffneten Neutralität sowie ihrer Unabhängigkeit von jedem fremden Einfluss durch die
europäischen Großmächte. Diese internationale Anerkennung bzw.
Verpflichtung der Schweiz auf die Neutralität bildet bis heute die
maßgebende Grundlage für die schweizerische Außenpolitik.] Die Berlin-Blockade
1948/49 oder die Abhängigkeit Singapurs von Malaysia bei der Trinkwasserversorgung
sind nur zwei Beispiele, die zeigen, wie es um die reale Autonomie von
Kleinstaaten steht. Selbst wenn die EU ohne böse Absicht Gesetze erlässt und
Institutionen schafft, die Nicht-EU-Staaten benachteiligen, kann dies für die
Schweiz gravierend sein. Ihre historische und geographische Einbettung in
Europa macht sie für solche Gefährdungen viel anfälliger als etwa Neuseeland
oder Singapur. Ein Kleinstaat braucht ein offenes Hinterland, mit dem er sich
austauschen, aus dem er Lebensnotwendiges beziehen und in das er Güter und
Dienste liefern kann. Man kann dies zwar durch eine globale Diversifikation der
Waren-, Dienstleistungs-, und Finanzströme teilweise auffangen, aber letztlich
bleibt ein Land Gefangener seiner Geographie. Erst recht schmerzhaft wäre es
für die Schweiz daher, wenn sie gezielt diskriminiert würde. Es kann dafür
viele Motive geben, offensichtlich unedle ebenso wie erst auf den zweiten Blick
als solche erkennbare.
Zu Ersteren zählte die protektionistische Absicht [der EU], den Konkurrenten im Standortwettbewerb zu schädigen, die aus Neid genährte Benachteiligung des erfolgreichen Nachbarn oder die erpresserische Erzwingung von „Wohlverhalten“.
Zu Letzteren könnte man den „sanften“ Druck in Richtung EU-Beitritt rechnen, weil man das störrische Nichtmitglied zu seinem Glück zwingen müsse [Merkel-Deutschland]; es werde es einem später danken.
Angesichts der Lage der EU handelte es sich bei dieser Begründung um Verblendung oder Heuchelei.
Vermutlich genügte es für ein gutes Gedeihen der Schweiz in kleinstaatlicher
Unabhängigkeit nicht, dass sich die EU einfach korrekt verhielte. Vielmehr
wären dafür jene Großzügigkeit, jenes Wohlwollen und jene Toleranz gegenüber
dem eigenwilligen Kleinstaat nötig, die wirklich souveränen Menschen und
Institutionen eigen ist.
Schweizerische Interessenwahrung müsste hier ansetzen. Sie dürfte sich nicht zu schade sein, um die Gunst der EU und ihrer Mitgliedsländer zu werben und zu versuchen, diesen Nachbarn, in dessen Umzingelung man sich befindet, freundlich zu stimmen. Sie müsste ferner klarmachen, dass sich gesunde völkerrechtliche Beziehungen gerade in der Großzügigkeit der Großen gegenüber den Kleinen manifestieren. Vor allem aber müsste sie darlegen, wie sehr die Existenz eines unabhängigen Kleinstaates für beide Seiten von Vorteil ist, für den Kleinstaat und für den Staatenverbund. Unbestrittene Voraussetzung ist natürlich, dass der Kleinstaat sein Haus in Ordnung hält, den anderen nicht zur Last fällt und für den Nutzen, den er aus dem großen Staatenverbund zieht, Gegenleistungen erbringt. Die Schweiz darf kein Schmarotzer sein [das ist sie in den Augen der EU, von Merkel-Deutschland]. Sie darf – perception is reality – nicht einmal den Anschein erwecken, sie wolle profitieren, ohne zu zahlen. So müsste es ihr gelingen, das Wohlwollen ihrer Partner zu gewinnen.
Die Reaktionen Brüssels auf den Brexit-Entscheid lassen
diesbezüglich jedoch Zweifel aufkommen. [Die EU meint Grossbritannien, meint unser Land zwingen zu können, die Urteile des 'Europäischen Gerichtshofs' (EuGH) anzuerkennen: Fremde Richter!] Leider überwiegen die Anzeichen, dass
die EU [d. h. Merkel-Deutschland] das abtrünnige Land mit größter Strenge behandeln möchte, selbst unter
Inkaufnahme eigener Nachteile, damit nur ja nicht andere Mitglieder auf die
Idee kommen, die Briten zu kopieren. Das wäre auch für die Schweiz keine gute
Vorlage.
Sollten allerdings in der EU doch die wirtschaftlichen und verteidigungspolitischen Eigeninteressen gegenüber der ideologischen Fixierung obsiegen, könnte das auch der Schweiz Chancen eröffnen.
Im Gegensatz zur Schweiz integrieren sich die meisten europäischen
Kleinstaaten in die EU und versuchen, durch eine verfassungsrechtlich
verankerte Abtretung nationaler Souveränität an diese supranationale
Institution sui generis ihre Autonomie zu sichern. Sie hoffen, durch
Mitgestaltung auf die Entwicklung der EU Einfluss nehmen und so die
nationalstaatlichen Interessen besser wahren zu können als in einem oft gar
nicht so autonomen Nachvollzug. Tatsächlich ist die Angst vor einem
Souveränitätsverlust durch Integration kaum berechtigt. Ein teilweises Aufgehen
in einem größeren Verbund muss nicht einen Verlust an Souveränitätsrechten
bedeuten, sondern kann sogar deren Absicherung darstellen – zumindest
formaljuristisch.
Hingegen sollte man die Bedeutung des Mitentscheidens nicht überschätzen. Das Gewicht der Kleinstaaten ist klein, und es ist ohnehin nur dann von Bedeutung, wenn nationale Interessen auf dem Spiel stehen und ein Entscheid so knapp ist, dass er sich trotz des geringen Gewichts des Kleinstaates kippen lässt. In Summe dürfte die Schweiz durch ein Mitentscheiden in der EU also wohl weniger Gestaltungsmacht gewinnen, als ihr trotz allen „autonomen Nachvollzugs“ und aller Satellitisierung im Fall der Eigenständigkeit noch verbliebe.
Wichtig wäre aber, dass sich die Schweiz und die EU bewusst
würden, dass ein unabhängiger Kleinstaat Schweiz eine Rolle zugunsten des
europäischen Staatenverbundes zu spielen hätte, dass er nicht in erster Linie
störender Querulant wäre.
Erstens - Diese Rolle bestünde, erstens, in der Funktion, die auch jede Stadt für ihr Hinterland spielt, nämlich der einer zentralen Dienstleisterin, einer Anbieterin von zentralörtlichen Funktionen, etwa als Finanz- und Vermögensverwaltungsplatz, als Zentrum für Gesundheit, Wellness und Erholung, als Wissenschaftsstandort oder als Verkehrsdrehscheibe. Das können zwar andere Regionen ebenfalls leisten, auch solche, die sich innerhalb der EU befinden. Dennoch sollte man diesen Beitrag der Schweiz an Europa nicht geringschätzen.
Zweitens könnte und müsste sich der unabhängige Kleinstaat Schweiz natürlich immer wieder an Projekten der EU beteiligen, die auch ihm zugutekommen. Die Schweiz würde also einiges in Europa mitfinanzieren und mit unterstützen, aber fallweise, also immer nur dort, wo es für beide Seiten sinnvoll ist.
Wichtigste Rolle des eigenständigen, „abseits“ stehenden Kleinstaates Schweiz wäre aber, drittens, die fast philosophische Rolle des Gegenmodells, des Maßstabs, an dem man sich messen kann, in kleinen Bereichen der Politik wie in großen Fragen der staatlichen und wirtschaftlichen Ordnung. Davon profitieren, wie im Wettbewerb der Unternehmen, die konkurrierenden Produzenten ebenso wie die nachfragenden Konsumenten. Anbieter sind in der Politik Regierungen und staatliche Verwaltungen, die durch Wettbewerb zu Innovation und Effizienz getrieben würden; Nachfrager sind Bürger, die zu niedrigeren Steuern oder besseren Preis-Leistungs-Paketen kämen. Der Stachel im Fleisch verhindert Trägheit und Nabelschau.
[Aus der Sicht von Merkel-Deutschland ist die Schweiz ein unangenehmer Stachel in ihrem Hintern]
Ein zentraler Aspekt dieses Gegenmodells ist das politische System der Schweiz. Es umfasst einen veritablen, auch fiskalischen Wettbewerb kleinster Gebietseinheiten, nämlich von 26 Kantonen und mehr als 2000 Gemeinden. Es basiert ferner auf der These, dass das Volk und Teilzeitpolitiker nicht irrtumsanfälliger oder dummheitsanfälliger sind als Fachleute und Berufspolitiker, natürlich auch nicht weniger anfällig.
[gerade das passt dem "demokratisch"-kaiserlichen Merkel-Deutschland in keiner Weise]
Und es gesteht schließlich dem Volk weitestgehend das Recht zu, Selbstbindungen bis hin zu völkerrechtlichen Verträgen wieder zu kündigen. Um es mit Tony de Jasay zu formulieren: Diese Selbstbindungen sind wie ein Keuschheitsgürtel, zu dem die Dame selbst den Schlüssel verwaltet. Würde ihn jemand anderer verwalten, etwa ein oberstes Gericht, würde das die Dame entrechten, vor allem aber könnte niemand garantieren, dass der Schlüsselverwalter tatsächlich im Interesse der Dame (beziehungsweise des Volkes) handelt.
Eine vierte Rolle, die einem außenstehenden Kleinstaat Schweiz zukäme, wäre die des Vermittlers. Kleine Staaten genießen in vielen Situationen größere Glaubwürdigkeit, weil sie keine hegemonialen Ansprüche und – angesichts der Kleinheit – auch nur kleine Eigeninteressen verkörpern. Das erlaubte es der Schweiz, weiterhin „gute Dienste“ zu leisten, jenseits aller Blockzugehörigkeiten. Vielleicht könnte der neutrale Außenseiter sogar einmal vermitteln, wenn es innerhalb der EU zu heftigeren Auseinandersetzungen käme, eine Perspektive, die ja alles andere als unwahrscheinlich ist.
Die Schweiz könnte als Kleinstaat inmitten Europas gut überleben.
Nichts spricht gegen ihre Lebensfähigkeit und Daseinsberechtigung. Zentrale
Voraussetzung ist jedoch, dass sie in dieser Rolle von allen Mitspielern
gewollt wird. Wenn die EU diesen Staat nicht will, kann sie ihn mit ihrer Macht
verhindern. Die Vorteile eines Wettbewerbs der Systeme, und sei es einer
zwischen einem Staat, der bei Einwohnerzahl und Fläche zum unteren Mittelstand
zählt, und einem Staatenverbund von kontinentaler Ausdehnung und enormer
Potenz, liegen zwar auf der Hand, passen aber nicht zum in Europa gängigen
„mind set“ der Harmonisierung. In der Schweiz ist die Idee des teilsouveränen
[hier ist Herr Schwarz von avenir suisse bedeutungsvoll unpräzise] Kleinstaates – selbständig, aber von seinem Hinterland abhängig – aus anderen
Gründen noch nicht angekommen. Im Kalten Krieg wuchs der Schweiz dank
Wirtschaftsmacht, Neutralität und geographischer Lage eine weltpolitische Rolle
zu, die weit über ihre Größe hinausging. Dementsprechend tun sich viele schwer,
einzusehen und zu akzeptieren, dass nun über viele große Angelegenheiten, die
einen selbst betreffen, andere entscheiden – ganz gleich, ob man mit am Tisch
sitzt oder nicht. Für sie heißt Selbstbescheidung Rückschritt und Verlust an
völkerrechtlicher Würde.
Die Schweiz als kleines Boot auf den Wellen des europäischen Meeres, die sie nicht beeinflussen kann, denen sie sich [in Grenzen] anpassen muss – das mag ernüchternd tönen, sollte aber nicht deprimieren. Gelegentlich helfen kleine Rettungsboote zu überleben, wenn große Schiffe in Stürmen, die sie nicht beeinflussen und abwehren können, in Schwierigkeiten geraten. Diese Rettung funktioniert jedoch nur, wenn das große Schiff und das kleine Boot eine symbiotische Beziehung pflegen und wenn das Boot nicht so fest an den Dampfer gekettet ist, dass es – wenn es gebraucht würde – mit diesem untergeht.
Der Autor
Gerhard Schwarz ist ein liberaler Ökonom und Publizist. 1951 in
der Nähe von Bregenz geboren, hat er in St. Gallen Wirtschaft studiert. Drei
Jahrzehnte schrieb er für die Neue Zürcher Zeitung, deren Wirtschaftsredaktion
er 16 Jahre leitete. Danach übernahm er die Denkfabrik Avenir Suisse, die Ideen
für eine marktwirtschaftliche Schweiz entwickelt. Heute ist er Präsident der
gemeinnützigen Progress Foundation in Zürich. Der Artikel auf dieser Seite
basiert auf seinem Beitrag für das Buch „Kleinstaat Schweiz – Auslauf- oder
Erfolgsmodell“, das im Juni bei NZZ Libro erschienen ist. hig
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