Oberflächlich – Deutschland und die Flüchtlinge
Rhoenblicks Kommentar:
Martin Kämpchen
beschäftigt sich in seinem Artikel „Schaffen wir das?“ - „Wie ein Heimkehrer
Deutschland erlebt“ (26.10.2015) u.a. mit den Menschen in Deutschland, denen –
so sieht es Kämpchen – „es an Mut fehlt, sich der enormen Herausforderung zu
stellen“.
Kämpchen gibt den
„Mutlosen“ zu bedenken, „dass unmittelbar nach dem Krieg, als Deutschland
zerstört und die Bevölkerung verarmt war, über drei Millionen aus Osteuropa
vertriebene Flüchtlinge im damaligen Westdeutschland Aufnahme fanden“. Nun, das
waren Landsleute, Deutsche, sehr viele Frauen und Kinder, deren Familien
Jahrzehnte oder Jahrhunderte in Preußen, Schlesien, an der Wolga oder im Banat
- um nur einige Beispiele zu nennen - als Deutsche gelebt, ihre deutschen
Bräuche und ihre deutsche Kultur gepflegt haben, die auch durch familiäre Bande
mit ihrem Land, ihrer Heimat verbunden blieben.
Der
Flüchtlingstsunami, den Deutschland jetzt und bis auf weiteres erlebt, lässt
sich doch in keiner Weise damit vergleichen. Das Warum weiß jedermann, es gibt
nur welche, die dies nicht wahrhaben haben wollen, dazu scheint auch Martin
Kämpchen zu gehören.
Kämpchen gibt den
„Mutlosen“ auch zu bedenken, dass „schließlich vor 25 Jahren die Bevölkerung
von Ost- und Westdeutschland vereinigt wurde.“ Das hat erst recht mit dem
Flüchtlingsstrom von heute nichts gemeinsam. Es kamen ja nicht nur Menschen
zusammen - wiederum Deutsche und Deutsche – sondern es verschmolzen auch zwei
durch die Kriegsfolge willkürlich getrennte Territorien.
Kämpchen sieht
erstaunliche Kräfte der Toleranz, wenn in einem Staat von rund 80 Millionen
Einwohnern, ein Homosexueller, ein Asiate deutsche Minister gewesen sind. Wenn
Kämpchen des weiteren Bundesminister Wolfgang Schäuble als Zeichen lobenswerter
deutscher Toleranz erwähnt, so verliert er das Maß des Schicklichen. Wolfgang
Schäuble war Bundesinnenminister als er am 12. Oktober 1990 an einer
Wahlversammlung von einem psychisch kranken Mann niedergeschossen wurde.
Seitdem ist er vom dritten Brustwirbel an abwärts gelähmt und auf einen
Rollstuhl angewiesen. Wolfgang Schäubles Regierungstätigkeit im Rollstuhl ist
sicherlich kein Zeichen von „deutscher Toleranz“, sondern von Willen und Kraft
eines behinderten Menschen.
Wie in diesem
Artikel dargelegt, fehlt Kämpchen offensichtlich korrektes historisches Wissen.
Bevor er solche Artikel schreibt, sollte er doch bedenken, dass er seit mehr
als 40 Jahren in Indien lebt und dass ihm offensichtlich Deutschland fremd
geworden ist.
„Schaffen wir das? - Wie ein Heimkehrer Deutschland erlebt“
„F.A.Z.“, vom 26.10.2015, von Martin Kämpchen
Ich lebe seit mehr als vierzig Jahren in Indien und habe
dort stets empfunden, dass ich, indem ich die Probleme der Menschen teile, im
Zentrum der Welt wohne. Millionen von Menschen waren und sind auf der Flucht:
in Indien von den Dörfern in die Städte, anderswo weg von Bürgerkrieg und
Terror. Das Gefühl der Irrealität, das mich oft beschlich, wenn ich Deutschland
besuchte, empfinde ich nun plötzlich nicht mehr. Unser Land ist in der Mitte
der Welt angekommen.
Während ich durchs Land reise, merke ich, dass überall
schon ein Prozess begonnen hat. Wir überdenken und revidieren unsere
liebgewordenen Denk- und Handlungsschemata, viele selbstlose, unbürgerliche,
dem menschlichen Du zugewandte Handlungsmöglichkeiten müssen nun individuell
und in Gruppen erprobt, neue Formen des Zusammenlebens ausgedacht und
ausprobiert werden.
Mehrere Generationen Deutscher haben ein
gesellschaftliches Umfeld erlebt, das im Vergleich zu beinahe allen anderen
Regionen der Welt, dem Nahen Osten, der arabischen Welt, dem indischen
Subkontinent, Russland und seinen ehemaligen Satellitenstaaten, Afrika, aber
auch China, eine ungewöhnlich friedliche gesellschaftliche Entfaltung und
Selbstverwirklichung ermöglichte.
Wir haben geglaubt, dieser unser Zustand sei der
durchschnittlich normale Zustand unserer Welt, und haben daraus ein Recht auf
unser Wohlstandsleben abgeleitet. Wir haben nicht gespürt, wie privilegiert wir
in den Jahrzehnten seit dem Wiederaufbau nach 1945 gewesen sind und wie stark
in anderen Weltregionen Not und leidvolle Unsicherheit geherrscht haben. Wir
haben es nicht gespürt, obwohl seit zwei Generationen die Jugendlichen
Deutschlands eine bisher nie erlebte Mobilität entfalten. Sie reisen in die
entlegenen Weltgegenden, sie treten in Krisenregionen ein, und eine kleine
Anzahl hilft sogar bei der Bewältigung der Krisen mit. Sie alle sind Zeugen des
"Normalzustands" dieser Welt.
Mit der Flüchtlingskrise sind wir in der Mitte der Welt
angekommen, will sagen: Die großen Probleme dieser Welt sind auch unsere
Probleme geworden. Sie überschwemmen uns von außen, binden unsere
gesellschaftlichen Kräfte und beschäftigen vor allem unsere Phantasie und
Ängste. Plötzlich sind die Ängste, mit denen die Menschen in den meisten
Weltregionen schon immer gekämpft haben, auch unsere geworden.
Menschen, für die wir in den letzten Jahrzehnten
gespendet haben, Pakete geschickt, Patenschaften übernommen, über die wir im
Fernsehen Dokumentarfilme angeschaut haben, treten nun scharenweise in unser
Land ein. Plötzlich erkennen wir, dass unsere Spenden und Patenschaften und
unsere mediale Anteilnahme recht bequeme Mittel gewesen sind, mit dem
millionenfachen Schicksal dieser Menschen "fertigzuwerden". Jetzt stehen
dieselben Menschen leibhaftig vor uns, und wir spüren, dass es nicht damit
getan ist, unser altes Sofa statt auf den Sperrmüll in die Heime der
Flüchtlinge und Asylbewerber zu tragen.
Immer haben wir bedauert, dass wir den Armen und
Rechtlosen in fernen Ländern nicht unmittelbar und sichtbar helfen konnten.
Seit einigen Wochen ist diese Möglichkeit der unmittelbaren Hilfe und Zuwendung
gegeben. Es geht ein Ruck durch unsere Gesellschaft. Viel böses Blut kocht
hoch, aber ebenso erstaunlich viel guter Wille, viel positive Energie
manifestieren sich. Vor allem aber zeigt sich Hilflosigkeit, wie man diesen
Menschen, von denen viele auf Dauer unsere Nachbarn werden, begegnen soll, wie
diese Nachbarschaft aussehen kann.
Wem es an Mut fehlt, sich der enormen Herausforderung zu
stellen, der bedenke, dass unmittelbar nach dem Krieg, als Deutschland zerstört
und die Bevölkerung verarmt war, über drei Millionen aus Osteuropa vertriebene
Flüchtlinge im damaligen Westdeutschland Aufnahme fanden. Dann kamen die
Gastarbeiter, die auf Einladung ins Land strömten. Schließlich wurde vor 25
Jahren die Bevölkerung von Ost- und Westdeutschland vereinigt, ein nationales
Projekt, das noch nicht abgeschlossen ist, das aber nicht mehr misslingen kann.
Wem es weiterhin an Mut fehlt, bedenke, dass Deutschland im letzten Jahrzehnt
erstaunliche Kräfte der Toleranz entwickelt hat, die anderen Ländern ein
Beispiel geworden ist: Deutschland hatte einen homosexuellen Außenminister und
Regierenden Bürgermeister seiner Hauptstadt, Menschen, die ihr Land und ihre
Stadt auch nach außen würdig vertreten haben. Deutschland hatte einen
gebürtigen Vietnamesen als Wirtschaftsminister, und ein langjähriger
Spitzenpolitiker ist Rollstuhlfahrer. Viele Politiker sind türkischer Herkunft,
der Oberbürgermeister Bonns ist gebürtiger Inder. Sie alle sind gewählt worden.
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