Sonntag, 1. November 2015

"F.A.Z." - Eine oberflächliche Betrachtung des Problems Deutschland und die Flüchtlinge



Oberflächlich – Deutschland und die Flüchtlinge


Rhoenblicks Kommentar:
Martin Kämpchen beschäftigt sich in seinem Artikel „Schaffen wir das?“ - „Wie ein Heimkehrer Deutschland erlebt“ (26.10.2015) u.a. mit den Menschen in Deutschland, denen – so sieht es Kämpchen – „es an Mut fehlt, sich der enormen Herausforderung zu stellen“.

Kämpchen gibt den „Mutlosen“ zu bedenken, „dass unmittelbar nach dem Krieg, als Deutschland zerstört und die Bevölkerung verarmt war, über drei Millionen aus Osteuropa vertriebene Flüchtlinge im damaligen Westdeutschland Aufnahme fanden“. Nun, das waren Landsleute, Deutsche, sehr viele Frauen und Kinder, deren Familien Jahrzehnte oder Jahrhunderte in Preußen, Schlesien, an der Wolga oder im Banat - um nur einige Beispiele zu nennen - als Deutsche gelebt, ihre deutschen Bräuche und ihre deutsche Kultur gepflegt haben, die auch durch familiäre Bande mit ihrem Land, ihrer Heimat verbunden blieben.
Der Flüchtlingstsunami, den Deutschland jetzt und bis auf weiteres erlebt, lässt sich doch in keiner Weise damit vergleichen. Das Warum weiß jedermann, es gibt nur welche, die dies nicht wahrhaben haben wollen, dazu scheint auch Martin Kämpchen zu gehören.

Kämpchen gibt den „Mutlosen“ auch zu bedenken, dass „schließlich vor 25 Jahren die Bevölkerung von Ost- und Westdeutschland vereinigt wurde.“ Das hat erst recht mit dem Flüchtlingsstrom von heute nichts gemeinsam. Es kamen ja nicht nur Menschen zusammen - wiederum Deutsche und Deutsche – sondern es verschmolzen auch zwei durch die Kriegsfolge willkürlich getrennte Territorien.

Kämpchen sieht erstaunliche Kräfte der Toleranz, wenn in einem Staat von rund 80 Millionen Einwohnern, ein Homosexueller, ein Asiate deutsche Minister gewesen sind. Wenn Kämpchen des weiteren Bundesminister Wolfgang Schäuble als Zeichen lobenswerter deutscher Toleranz erwähnt, so verliert er das Maß des Schicklichen. Wolfgang Schäuble war Bundesinnenminister als er am 12. Oktober 1990 an einer Wahlversammlung von einem psychisch kranken Mann niedergeschossen wurde. Seitdem ist er vom dritten Brustwirbel an abwärts gelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Wolfgang Schäubles Regierungstätigkeit im Rollstuhl ist sicherlich kein Zeichen von „deutscher Toleranz“, sondern von Willen und Kraft eines behinderten Menschen.
Wie in diesem Artikel dargelegt, fehlt Kämpchen offensichtlich korrektes historisches Wissen. Bevor er solche Artikel schreibt, sollte er doch bedenken, dass er seit mehr als 40 Jahren in Indien lebt und dass ihm offensichtlich Deutschland fremd geworden ist.

„Schaffen wir das? - Wie ein Heimkehrer Deutschland erlebt“

„F.A.Z.“, vom 26.10.2015, von Martin Kämpchen

Ich lebe seit mehr als vierzig Jahren in Indien und habe dort stets empfunden, dass ich, indem ich die Probleme der Menschen teile, im Zentrum der Welt wohne. Millionen von Menschen waren und sind auf der Flucht: in Indien von den Dörfern in die Städte, anderswo weg von Bürgerkrieg und Terror. Das Gefühl der Irrealität, das mich oft beschlich, wenn ich Deutschland besuchte, empfinde ich nun plötzlich nicht mehr. Unser Land ist in der Mitte der Welt angekommen.

Während ich durchs Land reise, merke ich, dass überall schon ein Prozess begonnen hat. Wir überdenken und revidieren unsere liebgewordenen Denk- und Handlungsschemata, viele selbstlose, unbürgerliche, dem menschlichen Du zugewandte Handlungsmöglichkeiten müssen nun individuell und in Gruppen erprobt, neue Formen des Zusammenlebens ausgedacht und ausprobiert werden.

Mehrere Generationen Deutscher haben ein gesellschaftliches Umfeld erlebt, das im Vergleich zu beinahe allen anderen Regionen der Welt, dem Nahen Osten, der arabischen Welt, dem indischen Subkontinent, Russland und seinen ehemaligen Satellitenstaaten, Afrika, aber auch China, eine ungewöhnlich friedliche gesellschaftliche Entfaltung und Selbstverwirklichung ermöglichte.

Wir haben geglaubt, dieser unser Zustand sei der durchschnittlich normale Zustand unserer Welt, und haben daraus ein Recht auf unser Wohlstandsleben abgeleitet. Wir haben nicht gespürt, wie privilegiert wir in den Jahrzehnten seit dem Wiederaufbau nach 1945 gewesen sind und wie stark in anderen Weltregionen Not und leidvolle Unsicherheit geherrscht haben. Wir haben es nicht gespürt, obwohl seit zwei Generationen die Jugendlichen Deutschlands eine bisher nie erlebte Mobilität entfalten. Sie reisen in die entlegenen Weltgegenden, sie treten in Krisenregionen ein, und eine kleine Anzahl hilft sogar bei der Bewältigung der Krisen mit. Sie alle sind Zeugen des "Normalzustands" dieser Welt.

Mit der Flüchtlingskrise sind wir in der Mitte der Welt angekommen, will sagen: Die großen Probleme dieser Welt sind auch unsere Probleme geworden. Sie überschwemmen uns von außen, binden unsere gesellschaftlichen Kräfte und beschäftigen vor allem unsere Phantasie und Ängste. Plötzlich sind die Ängste, mit denen die Menschen in den meisten Weltregionen schon immer gekämpft haben, auch unsere geworden.

Menschen, für die wir in den letzten Jahrzehnten gespendet haben, Pakete geschickt, Patenschaften übernommen, über die wir im Fernsehen Dokumentarfilme angeschaut haben, treten nun scharenweise in unser Land ein. Plötzlich erkennen wir, dass unsere Spenden und Patenschaften und unsere mediale Anteilnahme recht bequeme Mittel gewesen sind, mit dem millionenfachen Schicksal dieser Menschen "fertigzuwerden". Jetzt stehen dieselben Menschen leibhaftig vor uns, und wir spüren, dass es nicht damit getan ist, unser altes Sofa statt auf den Sperrmüll in die Heime der Flüchtlinge und Asylbewerber zu tragen.

Immer haben wir bedauert, dass wir den Armen und Rechtlosen in fernen Ländern nicht unmittelbar und sichtbar helfen konnten. Seit einigen Wochen ist diese Möglichkeit der unmittelbaren Hilfe und Zuwendung gegeben. Es geht ein Ruck durch unsere Gesellschaft. Viel böses Blut kocht hoch, aber ebenso erstaunlich viel guter Wille, viel positive Energie manifestieren sich. Vor allem aber zeigt sich Hilflosigkeit, wie man diesen Menschen, von denen viele auf Dauer unsere Nachbarn werden, begegnen soll, wie diese Nachbarschaft aussehen kann.

Wem es an Mut fehlt, sich der enormen Herausforderung zu stellen, der bedenke, dass unmittelbar nach dem Krieg, als Deutschland zerstört und die Bevölkerung verarmt war, über drei Millionen aus Osteuropa vertriebene Flüchtlinge im damaligen Westdeutschland Aufnahme fanden. Dann kamen die Gastarbeiter, die auf Einladung ins Land strömten. Schließlich wurde vor 25 Jahren die Bevölkerung von Ost- und Westdeutschland vereinigt, ein nationales Projekt, das noch nicht abgeschlossen ist, das aber nicht mehr misslingen kann. Wem es weiterhin an Mut fehlt, bedenke, dass Deutschland im letzten Jahrzehnt erstaunliche Kräfte der Toleranz entwickelt hat, die anderen Ländern ein Beispiel geworden ist: Deutschland hatte einen homosexuellen Außenminister und Regierenden Bürgermeister seiner Hauptstadt, Menschen, die ihr Land und ihre Stadt auch nach außen würdig vertreten haben. Deutschland hatte einen gebürtigen Vietnamesen als Wirtschaftsminister, und ein langjähriger Spitzenpolitiker ist Rollstuhlfahrer. Viele Politiker sind türkischer Herkunft, der Oberbürgermeister Bonns ist gebürtiger Inder. Sie alle sind gewählt worden.

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