Andreas Scheurer:
Tempolimit und Schadstoffe -
Kampf gegen unsichtbare Gegner
Eine Analyse von Jonas Schaible
t-online.de; vom 29.01.2019, 09:15 Uhr
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Feinstaub: Verkehrsminister Scheuer stellt die Grenzwerte
infrage. (Quelle: Reuters)
Andreas Scheuer hat mehrere Krisen geerbt. In dieser Lage
greift er zu rhetorischen Tricks, die seiner Partei gerade erst geschadet
haben.
Gegner, die es nicht gibt, haben gegenüber wirklichen
Gegnern den großen Vorteil, dass sie nicht zurückschlagen, wenn man sie
watscht. Andreas Scheuer, Bundesminister für Verkehr und digitale
Infrastruktur, verwickelt in Diskussionen um Luftverschmutzung und ein
mögliches Tempolimit auf Autobahnen, macht sich das in diesen Tagen besonders
beherzt zunutze. Er stellt seine Gegner mit umso größerer Vehemenz und
Tatkraft, je weniger er fürchten muss, dass sie sich wehren.
Das Ergebnis ist ein merkwürdiges politisches Schattenboxen,
in dem Scheuer allerdings auch Unbeteiligte trifft: Die Einigkeit der
Koalition, die Wirklichkeit, die Wissenschaft, die Bedeutung von Wörtern und
schließlich sogar die neue Sanftmut seines Parteivorsitzenden Markus Söder.
Fahrverbote sind weiterhin möglich
Auch nachdem Manipulationen bei Abgasmessungen an bestimmten
Autos aufgeflogen waren, weigerten sich die Autokonzerne in mehreren
Verhandlungen, alle Diesel bestimmter Schadstoffklassen auf eigene Kosten
nachzurüsten. Die Regierung akzeptierte einen Kompromiss, der im Wesentlichen
darin besteht, dass Hersteller Rabatte gewähren, wenn Dieselfahrer ihre alten
Autos in Zahlung geben und einen neuen Diesel kaufen. Diese Maßnahmen drücken
den Stickoxidausstoß nicht so, dass die Grenzwerte auch in belasteten Städten
oft genug eingehalten werden. Fahrverbote drohen weiterhin.
Dazu empfahl die Verkehrskommission der Bundesregierung in
der vergangenen Woche unter anderem ein allgemeines Tempolimit von 130
Stundenkilometern auf allen Autobahnen. Zum Schutz des Klimas, weil die
CO2-Emissionen im Verkehr seit Jahren nicht sinken, obwohl sie sinken müssen,
damit Deutschland die Klimaziele einhalten kann.
Scheuer hat beides geerbt, ist aber verantwortlich
Scheuer hat beide Situationen nicht herbeigeführt, sondern
sie von seinen Vorgängern und Parteifreunden Alexander Dobrindt und Peter
Ramsauer geerbt. Jetzt rücken weitere Einschränkungen für Autofahrer näher.
Doch Scheuer ist politisch verantwortlich, ohne wirklich Möglichkeiten zu
haben, einzugreifen: Es gehört zum Kernprogramm der CSU, ein Tempolimit
abzulehnen. Was Stickoxide und Feinstaub betrifft: Er kann oder will die
Konzerne nicht härter angehen. Zu Nachrüstungen kann er sie nicht zwingen. Er
kann die Grenzwerte nicht einfach ändern, weil sie in der EU festgelegt wurden.
Er will Fahrverbote nicht hinnehmen. Also bleibt nur, die Grenzwerte zu
attackieren und die Messungen in Frage zu stellen.
In dieser Situation entschied sich Scheuer für eine
Strategie, für die die CSU berüchtigt ist, die aber im vergangenen Sommer
derart daneben ging, dass der neue Parteichef Markus Söder ihr eigentlich
abgeschworen hat: völlige rhetorische Eskalation. Überzogene Angriffe auf
tatsächliche und erfundene Gegner. Diskussion mit Scheinargumenten. Abwiegeln,
ausweichen, täuschen. Es gibt ein Wort dafür, es heißt: Rabulistik. Könnte man
darin promovieren, Scheuer wäre längst Doktor.
"Gegen jeden Menschenverstand": Deutschland
diskutiert über ein Tempolimit auf der Autobahn. (Quelle: t-online.de)
"Gegen jeden Menschenverstand"
Die Liste der Beispiele allein aus der vergangenen Woche ist
lang. Über den Vorschlag der Verkehrskommissionn der Bundesregierung für ein
Tempolimit sagte Scheuer, das sei "gegen jeden Menschenverstand".
Dabei würde ein Tempolimit erstens CO2 einsparen. Scheuer selbst sagte, dass
der CO2-Ausstoß in Deutschland um rund 0,5 Prozent gesenkt werden könnte. Und
das ist eine vorsichtige Schätzung. Ein Tempolimit könnte zweitens Unfälle
verringern und einen gleichmäßigeren Verkehrsfluss ermöglichen. Wie auch immer
man dazu steht: Diese Argumente widersprechen nicht dem Verstand.
Um zu illustrieren, wie absurd die Diskussion um ein
Tempolimit sei, sagte Scheuer: Er sei jetzt einige Tage in Davos gewesen, auf
dem Weltwirtschaftsforum, und dort habe niemand über Verbote diskutiert. Nur
ist Deutschland das einzige Industrieland, das kein allgemeines Tempolimit hat.
Anderswo kann es diese Debatte deshalb gar nicht geben.
Um sein Nein zu einem Tempolimit zu begründen, sagte er der
"Bild", er hätte "Ideen, die die Leute verärgern, gleich
weggelassen". Und er sagte an anderer Stelle, er sei Politiker, er wisse,
"wie die Bürgerinnen und Bürger ticken". Die Bürger ticken so: Eine
knappe Mehrheit der Deutschen findet ein Tempolimit richtig, auch wenn fast die
Hälfte dagegen ist.
Die einen adeln, die anderen beschweigen
Über einen offenen Brief zu Auswirkungen von Schadstoffen
auf Menschen sagte er, es sei ein Signal, wenn "sich über hundert
Wissenschaftler zusammentun" und die gängigen Grenzwerte für Stickoxide
und Feinstaub in Zweifel ziehen. Doch den Brief hatten zwei Lungenärzte und
zwei Autoexperten geschrieben, unterzeichnet hatten rund 100 Lungenärzte. Die
meisten von ihnen sind keine Wissenschaftler.
Als dann eine Reihe Wissenschaftler, die nachweislich zu
Schadstoffen, Stickoxiden oder Feinstaub forschen, den Thesen des Briefs
widersprachen, sagte Scheuer auf die Frage, wie er das bewerte: „Ich bin kein
Lungenfacharzt.“ Er könne die Expertendebatte nur interessiert verfolgen. Was
ihm politisch passt, adelt er als wissenschaftlich, was dem widerspricht,
beschweigt er.
Als der Epidemiologe Heinz-Erich Wichmann, der selbst zu
Feinstaub forscht, bei "Anne Will" darauf hinwies, dass Grenzwerte
immer willkürlich sind, sagte Scheuer: Ein Grenzwert müsse "verifizierbar
sein" und dürfe "nicht auf Willkür basieren". Wenn von Willkür
die Rede ist, sei das ein Warnsignal. Was Wichmann meinte: Die Grenzwerte gehen
auf Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation zurück, die sich auf Tausende
Studien bezieht. Aber niemand kann Grenzwerte für Millionen Menschen exakt
festlegen. Wo genau der Wert gesetzt wird, ist deshalb eine Entscheidung und
damit zwar begründbar, aber willkürlich.
Streit unter Lungenfachärzten: Das sagt die Umweltministerin
zur Debatte um Feinstaub-Grenzwerte. (Quelle: t-online.de)
"Masochistische Debatte"
Es müsse, sagte Scheuer der "Bild" weiter,
"die masochistische Debatte beendet werden, wie wir uns in Deutschland mit
immer schärferen Grenzwerten selbst schaden und belasten können" – dabei
fordern derzeit überhaupt keine relevanten Kräfte schärfere Grenzwerte für
Feinstaub oder Stickoxide, auch wenn die WHO sie eher empfehlen würde.
"Die Bürger sind schockiert davon, dass diskutiert
wird, ob man ihnen das Auto wegnimmt oder zumindest stark entwertet",
sagte Scheuer. Dabei spricht niemand davon, Menschen ihr Auto wegzunehmen.
Fahrverbote werden von Gerichten verhängt, wenn Städte keine Maßnahmen
vorlegen, um Grenzwerte einzuhalten, sie betreffen bisher nur wenige Straßen
und niemand fordert bundesweite Fahrverbote für Diesel.
Schließlich sagte Scheuer, er freue sich über eine
Versachlichung der Debatte, es sei gut, dass man jetzt eine Diskussion um
Grenzwerte führe. Gleichzeitig machte er klar, dass für ihn jetzt schon klar
ist, wie diese Diskussion enden muss: "Wenn etwas Alltagstauglichkeit
einschränkt, dann haben wir die Notwendigkeit, etwas zu tun."
Man muss also festhalten, dass Scheuer es, freundlich formuliert,
mit der Wahrheit nicht allzu genau nimmt in diesen Tagen.
- Streit um Schadstoffwerte: Die Regierung taumelt von Position zu Position
- Brief von Ärzten: Das steckt hinter der Schadstoffdebatte
- Tempolimit: Regierung lehnt generelles Limit
Zumindest beim Tempolimit scheint er mit seiner Taktik
allerdings Erfolg zu haben. Die Regierung fordert kein Tempolimit, selbst die
SPD, die sich auf dem Parteitag eigentlich dafür ausgesprochen hat, hält sich
zurück. Die SPD-Umweltministerin Svenja Schulze schaffte es im "ZDF"
nicht, sich klar zu positionieren – was ihr viel Kritik einbrachte. Der Preis
einer solchen Strategie ist auf Dauer allerdings hoch. Die CSU hat das bei der
Landtagswahl im vergangenen Oktober selbst erfahren.