Führungsmacht
Deutschland – ein Luftschloss
Gastkommentar
„Neue Zürcher Zeitung“ vom Montag, den 13.08.2018; von
Heribert Dieter; Link: https://epaper.nzz.ch/#article/6/Neue%20Z%C3%BCrcher%20Zeitung/2018-08-14/10/234496992
Seit einigen Jahren wird in Europa immer wieder die
Forderung nach einer stärkeren Führungsrolle Deutschlands erhoben. Zugleich haben
zahlreiche deutsche Politiker und Kommentatoren angemahnt, dass die
Bundesregierung den europäischen Integrationsprozess aktiv gestalten sollte.
Die Regierung Merkel hat sich vorgenommen, den Integrationsprozess in Europa
rasch voranzutreiben. Dieser Ansatz stösst aber in vielen anderen europäischen
Ländern auf wenig Gegenliebe.
Über den Forderungen
nach einer deutschen Führungsrolle liegt der Schatten der bisherigen deutschen
Aussenpolitik.
Schon kurz nach Ausbruch der europäischen Finanzkrisen wurden
Forderungen nach einer Führungsrolle Deutschlands laut. Der damalige polnische
Aussenminister Radoslaw Sikorski stellte 2012 fest, Deutschland sei der grösste
Nutzniesser der europäischen Integration und müsse deshalb in Krisenphasen
stärker Verantwortung übernehmen. Deutsche Politiker griffen diese Idee
bereitwillig auf. Das Credo deutscher Politiker lautete, mit grosser Macht gehe
grosse Verantwortung einher. Verblüffend ist, dass diese Forderung bis heute
nicht etwa mit deutschen aussenpolitischen Interessen begründet wird, sondern
mit den Erwartungen, welche die Partnerländer an Deutschland richten würden.
Forderungen und Realitäten
Die an einer Verstärkung des deutschen Engagements im
Ausland interessierten aussenpolitischen Eliten haben diese Begründung – wir
müssen uns ändern, weil das Ausland dies erwartet – bewusst gewählt. Viele
Deutsche sind nämlich nicht davon überzeugt, dass eine Führungsrolle
Deutschlands in Europa sinnvoll und im Interesse Deutschlands sei. Die
intensive Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus hat bei vielen Deutschen
das Bewusstsein für die Risiken und Nachteile einer machtbewussten
Aussenpolitik geschärft.
Diese Diskrepanz zwischen den Forderungen der
aussenpolitischen Elite und der Bevölkerung wurde zuletzt in einer Umfrage der
Körber-Stiftung vom Dezember 2017 dokumentiert. Die Mehrheit, nämlich 52
Prozent der Befragten, unterstützte die Idee, Deutschland solle sich auch in
aussenpolitischen Krisen zurückhalten, während 43 Prozent die Forderung eines
stärkeren Engagements in internationalen Krisen befürworteten.
Diese Skepsis der Bevölkerung erschwert natürlich die
Übernahme einer Führungsrolle Deutschlands in Europa. Unterstützer des Konzepts
deutscher Hegemonie lassen sich davon indes nicht beirren. Unermüdlich wird auf
die vermeintlichen Erwartungen des Auslands an Deutschland verwiesen. Doch
trifft diese Aussage überhaupt zu? Die Ergebnisse einer Umfrage des Pew Center
vom Juni 2017 sind eindeutig. Deutschland wird in ganz Europa, mit Ausnahme
Griechenlands, positiv gesehen. 71 Prozent der Europäer haben eine positive
Wahrnehmung Deutschlands, nur 21 Prozent sehen Deutschland kritisch.
Ganz anders sieht es aus, wenn die gleichen Personen zu
Deutschlands Führungsrolle befragt werden. Knapp die Hälfte (49 Prozent) ist
der Ansicht, dass Deutschland heute schon zu mächtig ist. Nur eine kleine
Minderheit von 5 Prozent der Befragten meint, Deutschland habe zu geringen
Einfluss. Damit ergibt sich ein klares
Bild: Weder die Mehrheit der Europäer noch die Mehrheit der Deutschen wünschen
sich eine stärkere Führungsrolle des Landes in der EU.
Doch warum halten wesentliche Teile der aussenpolitischen
Eliten dennoch so beharrlich an diesem Leitbild fest? Eine Erklärung findet
sich in einem mehr als fünfzig Jahre alten Werk des amerikanischen
Aussenpolitikers J. William Fulbright,
der zu Beginn des Vietnamkriegs in einem Buch die «Arroganz der Macht»
kritisierte. Er beobachtete die Tendenz von grossen Nationen, Macht mit Tugend
zu verwechseln. Damit gehe, so Fulbright, die Vorstellung einher, dass diesem
mächtigen Land eine besondere Verantwortung für andere Nationen obliege. Damit
sie reicher und glücklicher würden, müssten die anderen Staaten nach dem Modell
der führenden Macht umgestaltet werden.
Arroganz der Macht
Solcher Arroganz der
Macht entsprangen auch die Fehlentscheidungen um die Flüchtlingskrise des
Jahres 2015. Die Bundesregierung hatte jahrelang die Forderungen Griechenlands
und Italiens nach stärkerer Unterstützung bei der Bewältigung des Ansturms von
Flüchtlingen ignoriert. Im September 2015 hingegen erklärte die
Bundeskanzlerin, Deutschland müsse nun Herz zeigen und Flüchtlinge in grosser
Zahl aufnehmen.
Angela Merkels
einsame Entscheidung hat anhaltende negative Konsequenzen für Deutschland und
Europa. Deutschland selbst ist tief gespalten und ringt mit der Bewältigung der
Flüchtlingswelle. Deutschland wie die Bundeskanzlerin, die zuvor ein hohes Mass
an Macht und Einfluss besessen hatten, verloren in Europa dramatisch an
Ansehen. Merkels Fähigkeit, strategische Entscheidungen zu treffen, wurde von
ihren europäischen Kollegen zunehmend infrage gestellt.
Im Zug der
Flüchtlingskrise beanspruchten die zahlreichen Unterstützer von Merkels Politik
gerne eine moralische Überlegenheit gegenüber den Kritikern unbeschränkter
Zuwanderung. In ihrer Verteidigung der Grenzöffnung blenden sie deren Folgen
für die europäische Integration und die Stellung Deutschlands in Europa indes
meist aus.
Kurzsichtiges Modell
Insbesondere in Südeuropa stehen auch die deutsche
Wirtschaftspolitik und die anhaltenden Leistungsbilanzüberschüsse im
Kreuzfeuer. Seit 2000 summieren sich diese Überschüsse auf rund 2500 Milliarden
Euro. Das deutsche Modell ist in der Tat kurzsichtig und schadet den anderen
europäischen Volkswirtschaften, die sich bei Deutschland verschulden. So ist
für die Menschen im Süden klar, dass sich Deutschland nicht wie ein gütiger,
sondern wie ein eigennütziger Hegemon verhält. Die Betonung des wirtschaftlichen
Nutzens für Deutschland bei gleichzeitiger Ausblendung der negativen Folgen für
diejenigen Länder, die deutsche Waren und Kapital importieren, ist entlarvend. Die «Financial Times» spottet inzwischen,
Deutschland verfolge eine Politik des «Germany first».
Trotz vieler berechtigter Kritik vermag Deutschland in
Zukunft konstruktive Beiträge zur Weiterentwicklung Europas zu leisten. Die
Voraussetzungen hierfür sind leicht zu benennen: Erstens müssen deutsche
Alleingänge – auch gut gemeinte – der Vergangenheit angehören. Zweitens müsste
Deutschland seine Überschüsse rasch abbauen. Es muss sich an dieser Stelle
entscheiden: Entweder verschenkt es systematisch Kapital an die anderen
Europäer, oder – und das wäre fraglos die vorteilhaftere Lösung – die inländische
Sparquote wird gesenkt und zugleich mehr im eigenen Land investiert.
Die Botschaft der Europäer ist indes eindeutig: Kaum jemand
möchte von Deutschland geführt werden, aber sehr viele Menschen in Europa
glauben weiter an den Nutzen europäischer Kooperation im wechselseitigen
Interesse. Eine
deutsche Vision von Europa, die keine Alternativen zum heutigen Zustand
erprobt, wird zweifellos zu einer deutlichen Schwächung Europas führen.
Heribert Dieter ist derzeit Gastprofessor für internationale
politische Ökonomie an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen.
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