Dienstag, 14. August 2018

Merkel-Deutschland: Über den Forderungen nach einer deutschen Führungsrolle liegt der Schatten der bisherigen deutschen Aussenpolitik.


Weder im In- noch im Ausland erwünscht
Führungsmacht Deutschland – ein Luftschloss
Gastkommentar

„Neue Zürcher Zeitung“ vom Montag, den 13.08.2018; von Heribert Dieter; Link: https://epaper.nzz.ch/#article/6/Neue%20Z%C3%BCrcher%20Zeitung/2018-08-14/10/234496992

Seit einigen Jahren wird in Europa immer wieder die Forderung nach einer stärkeren Führungsrolle Deutschlands erhoben. Zugleich haben zahlreiche deutsche Politiker und Kommentatoren angemahnt, dass die Bundesregierung den europäischen Integrationsprozess aktiv gestalten sollte. Die Regierung Merkel hat sich vorgenommen, den Integrationsprozess in Europa rasch voranzutreiben. Dieser Ansatz stösst aber in vielen anderen europäischen Ländern auf wenig Gegenliebe.
Über den Forderungen nach einer deutschen Führungsrolle liegt der Schatten der bisherigen deutschen Aussenpolitik.

Schon kurz nach Ausbruch der europäischen Finanzkrisen wurden Forderungen nach einer Führungsrolle Deutschlands laut. Der damalige polnische Aussenminister Radoslaw Sikorski stellte 2012 fest, Deutschland sei der grösste Nutzniesser der europäischen Integration und müsse deshalb in Krisenphasen stärker Verantwortung übernehmen. Deutsche Politiker griffen diese Idee bereitwillig auf. Das Credo deutscher Politiker lautete, mit grosser Macht gehe grosse Verantwortung einher. Verblüffend ist, dass diese Forderung bis heute nicht etwa mit deutschen aussenpolitischen Interessen begründet wird, sondern mit den Erwartungen, welche die Partnerländer an Deutschland richten würden.

Forderungen und Realitäten
Die an einer Verstärkung des deutschen Engagements im Ausland interessierten aussenpolitischen Eliten haben diese Begründung – wir müssen uns ändern, weil das Ausland dies erwartet – bewusst gewählt. Viele Deutsche sind nämlich nicht davon überzeugt, dass eine Führungsrolle Deutschlands in Europa sinnvoll und im Interesse Deutschlands sei. Die intensive Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus hat bei vielen Deutschen das Bewusstsein für die Risiken und Nachteile einer machtbewussten Aussenpolitik geschärft.

Diese Diskrepanz zwischen den Forderungen der aussenpolitischen Elite und der Bevölkerung wurde zuletzt in einer Umfrage der Körber-Stiftung vom Dezember 2017 dokumentiert. Die Mehrheit, nämlich 52 Prozent der Befragten, unterstützte die Idee, Deutschland solle sich auch in aussenpolitischen Krisen zurückhalten, während 43 Prozent die Forderung eines stärkeren Engagements in internationalen Krisen befürworteten.

Diese Skepsis der Bevölkerung erschwert natürlich die Übernahme einer Führungsrolle Deutschlands in Europa. Unterstützer des Konzepts deutscher Hegemonie lassen sich davon indes nicht beirren. Unermüdlich wird auf die vermeintlichen Erwartungen des Auslands an Deutschland verwiesen. Doch trifft diese Aussage überhaupt zu? Die Ergebnisse einer Umfrage des Pew Center vom Juni 2017 sind eindeutig. Deutschland wird in ganz Europa, mit Ausnahme Griechenlands, positiv gesehen. 71 Prozent der Europäer haben eine positive Wahrnehmung Deutschlands, nur 21 Prozent sehen Deutschland kritisch.

Ganz anders sieht es aus, wenn die gleichen Personen zu Deutschlands Führungsrolle befragt werden. Knapp die Hälfte (49 Prozent) ist der Ansicht, dass Deutschland heute schon zu mächtig ist. Nur eine kleine Minderheit von 5 Prozent der Befragten meint, Deutschland habe zu geringen Einfluss. Damit ergibt sich ein klares Bild: Weder die Mehrheit der Europäer noch die Mehrheit der Deutschen wünschen sich eine stärkere Führungsrolle des Landes in der EU.

Doch warum halten wesentliche Teile der aussenpolitischen Eliten dennoch so beharrlich an diesem Leitbild fest? Eine Erklärung findet sich in einem mehr als fünfzig Jahre alten Werk des amerikanischen Aussenpolitikers J. William Fulbright, der zu Beginn des Vietnamkriegs in einem Buch die «Arroganz der Macht» kritisierte. Er beobachtete die Tendenz von grossen Nationen, Macht mit Tugend zu verwechseln. Damit gehe, so Fulbright, die Vorstellung einher, dass diesem mächtigen Land eine besondere Verantwortung für andere Nationen obliege. Damit sie reicher und glücklicher würden, müssten die anderen Staaten nach dem Modell der führenden Macht umgestaltet werden.

Arroganz der Macht
Solcher Arroganz der Macht entsprangen auch die Fehlentscheidungen um die Flüchtlingskrise des Jahres 2015. Die Bundesregierung hatte jahrelang die Forderungen Griechenlands und Italiens nach stärkerer Unterstützung bei der Bewältigung des Ansturms von Flüchtlingen ignoriert. Im September 2015 hingegen erklärte die Bundeskanzlerin, Deutschland müsse nun Herz zeigen und Flüchtlinge in grosser Zahl aufnehmen.

Angela Merkels einsame Entscheidung hat anhaltende negative Konsequenzen für Deutschland und Europa. Deutschland selbst ist tief gespalten und ringt mit der Bewältigung der Flüchtlingswelle. Deutschland wie die Bundeskanzlerin, die zuvor ein hohes Mass an Macht und Einfluss besessen hatten, verloren in Europa dramatisch an Ansehen. Merkels Fähigkeit, strategische Entscheidungen zu treffen, wurde von ihren europäischen Kollegen zunehmend infrage gestellt.

Im Zug der Flüchtlingskrise beanspruchten die zahlreichen Unterstützer von Merkels Politik gerne eine moralische Überlegenheit gegenüber den Kritikern unbeschränkter Zuwanderung. In ihrer Verteidigung der Grenzöffnung blenden sie deren Folgen für die europäische Integration und die Stellung Deutschlands in Europa indes meist aus.

Kurzsichtiges Modell
Insbesondere in Südeuropa stehen auch die deutsche Wirtschaftspolitik und die anhaltenden Leistungsbilanzüberschüsse im Kreuzfeuer. Seit 2000 summieren sich diese Überschüsse auf rund 2500 Milliarden Euro. Das deutsche Modell ist in der Tat kurzsichtig und schadet den anderen europäischen Volkswirtschaften, die sich bei Deutschland verschulden. So ist für die Menschen im Süden klar, dass sich Deutschland nicht wie ein gütiger, sondern wie ein eigennütziger Hegemon verhält. Die Betonung des wirtschaftlichen Nutzens für Deutschland bei gleichzeitiger Ausblendung der negativen Folgen für diejenigen Länder, die deutsche Waren und Kapital importieren, ist entlarvend. Die «Financial Times» spottet inzwischen, Deutschland verfolge eine Politik des «Germany first».

Trotz vieler berechtigter Kritik vermag Deutschland in Zukunft konstruktive Beiträge zur Weiterentwicklung Europas zu leisten. Die Voraussetzungen hierfür sind leicht zu benennen: Erstens müssen deutsche Alleingänge – auch gut gemeinte – der Vergangenheit angehören. Zweitens müsste Deutschland seine Überschüsse rasch abbauen. Es muss sich an dieser Stelle entscheiden: Entweder verschenkt es systematisch Kapital an die anderen Europäer, oder – und das wäre fraglos die vorteilhaftere Lösung – die inländische Sparquote wird gesenkt und zugleich mehr im eigenen Land investiert.

Die Botschaft der Europäer ist indes eindeutig: Kaum jemand möchte von Deutschland geführt werden, aber sehr viele Menschen in Europa glauben weiter an den Nutzen europäischer Kooperation im wechselseitigen Interesse. Eine deutsche Vision von Europa, die keine Alternativen zum heutigen Zustand erprobt, wird zweifellos zu einer deutlichen Schwächung Europas führen.

Heribert Dieter ist derzeit Gastprofessor für internationale poli­tische Ökonomie an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen.

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