Freitag, 6. Oktober 2017

Bundestagswahlen 2017: Warum ist die AfD im Osten die stärkste oder zweitstärkste Partei?

"Deutschlands alte Wun­den bre­chen wieder auf"
„NZZ“ vom Donnerstag, 28.09.2017, 07:00 Uhr; von Christoph Eisenring, Berlin;
Link (gute Grafiken): https://www.nzz.ch/wi​​​​rtschaft/deutschla​n​d​s​-alte-wunden-br​ec​he​n-​wieder-auf-l​d.1​318​875​ .

[Meine Sicht:
Bei der Wende stürzte sich Westdeutschland – Politiker, Ehrgeizlinge, „Goldgräber“ und Wirtschaftsleute  wie die Heuschrecken auf Ostdeutschland und zerlegten es in kürzester Zeit. Die Filetstücke wurden in Besitz genommen oder versilbert, das Geld floss in den Westen. Die politisch, wirtschaftlich entscheidenden, die lukrativen Posten wurden von Westlern besetzt.
Bei den ersten freien Wahlen gewann die CDU haushoch. Doch mit der Zeit erkannten die Menschen im ehemaligen Ostdeutschland, dass sie vom „demokratischen“ Westen über den Tisch gezogen, ja ausgeraubt worden sind.]

NZZ:
Die AfD hat in Ostdeutschland gut jede fünfte Stimme geholt. Sehr stark war sie in Randregionen, aber auch in Städten wie Dresden und Leipzig. Der Ökonom Joachim Ragnitz hat dazu schlüssige Erklärungen.
Geht ein neuer Riss durch Deutschland? Die Alternative für Deutschland (AfD) hat in den ostdeutschen Bundesländern 21,5% der Stimmen geholt. Im vergleichsweise wirtschaftsstarken Sachsen mit seinen Boomstädten Dresden und Leipzig errang sie mit 27% sogar einen Hauch mehr Stimmen als die staatstragende CDU und ist damit stärkste Partei. Diese Resultate machen deutlich, dass Ost und West selbst nach 27 Jahren immer noch nicht so stark zusammengewachsen sind, wie man sich das im politischen Berlin gerne einredet. Die Wende habe zu Verletzungen geführt, die bei vielen nicht verheilt seien, sagt der Ökonom Joachim Ragnitz, der am Ifo-Institut Dresden arbeitet und seit 1994 in Ostdeutschland zu Hause ist.

Verlängerte Werkbank
Gewiss, die grundlegenden ökonomischen Daten sehen nicht schlecht aus. Die Arbeitslosenquote in den ostdeutschen Bundesländern hat sich von 18,7% im Jahr 2005 auf 8,5% im letzten Jahr zurückgebildet, die Lebenszufriedenheit zwischen den Landesteilen hat sich angenähert (siehe Grafik). Wer jung und gut qualifiziert sei, könne im Osten durchaus Löhne auf Westniveau aushandeln, erklärt Ragnitz. Aber im Schnitt liegt das Lohnniveau immer noch über 20% unter demjenigen im Westen. Ostdeutschland fehlen etwa die Hauptsitze von Konzernen mit ihren zentralen Diensten und Forschungsaktivitäten​​​​. Es ist oft noch immer die verlängerte Werkbank für westliche Firmen.
Auch wenn es in Ostdeutschland wenig Ausländer hat, fühlt man sich von der Flüchtlingsmigration in der Lebensweise und in der Arbeitswelt bedroht. Man habe Vorbehalte gegen «Multikulti», wie sie Anfang der 1970er Jahre auch Westdeutschland geprägt hätten, erzählt der 56-jährige Forscher. Da die Flüchtlinge vor allem für einfachere Jobs geeignet sind, werden sie gerade von schlecht Qualifizierten als Konkurrenz gesehen, was nachvollziehbar ist.
Dazu komme generell das Gefühl der Benachteiligung, das viele ältere Ostdeutsche empfänden. Es nährt sich aus drei Quellen.
Erstens haben sie nach der Wende oft einen Bruch in ihrer Biografie erlebt. So sei die Haltung weit verbreitet, dass die Treuhand, die die DDR-Wirtschaft privatisieren sollte, viele Betriebe «platt» gemacht habe. Der Groll ist laut Ragnitz in einigen Fällen berechtigt, oft aber auch ein Mythos. Der Hauptgrund für den Zusammenbruch war letztlich die geringe Leistungsfähigkeit der DDR-Betriebe.
Zweiten​​​​s gibt es Regelungen, die von Ostdeutschen als unfair empfunden werden. Ragnitz nennt als Beispiel die Entschädigungsfrage bei Enteignungen. Während Bewohner der DDR vom SED-Regime oft mit Brosamen für die Verstaatlichung von Eigentum abgefunden wurden, hätten im Westen lebende Personen nach der Wende ihr Eigentum zurückerhalten. Für Ressentiments sorgt auch, dass überproportional viele «Wessis» in Wirtschaft, Verwaltung oder Medien an Schaltstellen sitzen. Laut einer Studie beträgt etwa der Prozentsatz Ostdeutscher an den Führungskräften in den neuen Bundesländern nur 23% – bei 87% Bevölkerungsanteil.
D​​​​rittens: Mindestens so wichtig als Erklärung ist gerade in Sachsen der Kontrast zwischen Boomstädten und den Randregionen, die von Abwanderung geprägt sind. Entsprechend bleiben viele ältere Bewohner zurück. Oft gibt es einen Männerüberschuss, weil etliche Frauen nach der Wende ihr Glück im Westen versuchten. Parallel mit dem Bevölkerungsschwund hat sich die «Daseinsvorsorge» verschlechtert. Die Schliessung der Kinderklinik und des Amtsgerichts wird als Grund dafür gesehen, weshalb die AfD auf der Insel Usedom in Mecklenburg-Vorpommer​​​​n so viele Stammwähler hat.

Der Demokratie wird misstraut
Ragnitz findet es zwar richtig, dass man die Infrastruktur der Grösse der Bevölkerung anpasst. Mobile Ärzte, die in die Dörfer kommen, oder Busse für die Schüler könnten das Problem mindern. Doch bei Einrichtungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sei der Abbau übertrieben worden, ist der Forscher überzeugt. Dies gelte gerade auch für Grenzgebiete im Osten, die von bandenmässigem Diebstahl betroffen seien.
Eine Aufgabe habe die Bundesrepublik völlig unterschätzt, betont der Ökonom. Man habe gedacht, die Ostdeutschen wollten schnell Wohlstand erlangen und würden die demokratischen Gepflogenheiten rasch erlernen. Doch so einfach sei das nach vierzig Jahren Kommunismus und Indoktrination über den Feind im Westen nicht gewesen. Die Heranführung an die Demokratie sei vernachlässigt worden, was sich jetzt räche, sagt er.
Was kann man da heute noch tun? Nicht allzu viel, räumt Ragnitz ein. Die Politik solle den Leuten aber zuhören, die nach der Wende Kränkungen, Frustration und Ungerechtigkeiten erlebt hätten. Er verweist auf die sächsische Integrationsministeri​​​​n Petra Köpping, die durch das Land reist, um die Unzufriedenheit zu verstehen. Die Sozialdemokratin fordert, die Tätigkeit der Treuhand ehrlich aufzuarbeiten. Durch die Treuhand sei ein Misstrauen zurückgeblieben, ob bei der Wiedervereinigung alles mit rechten Dingen zugegangen sei, sagte sie kürzlich gegenüber der «Leipziger Internet-Zeitung». Dieses Misstrauen hat sich zum Teil auf das demokratische System übertragen.
[Frau Köpping sieht völlig klar - auch hier: wenige bereichern sich auf Kosten vieler].

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