Mittwoch, 27. Februar 2019

F.A.Z.: Der Kardinal öffnete seien Hose in der Sakristei


Frankfurter Allgemeine Zeitung

Er öffnete seine Hose in der Sakristei

Ein australisches Geschworenengericht hat Kardinal George Pell des sexuellen Missbrauchs für schuldig befunden. Der Vatikan spricht von einer „schmerzhaften Nachricht“. Von Till Fähnders und Matthias Rüb
HANOI/ROM, 26. Februar
Als Kardinal Pell am Dienstag den Gerichtssaal in Melbourne verlässt, muss er sich einen Weg durch eine wütende Menschenmenge bahnen. Auf Mitschnitten ist zu hören, wie der Kardinal und Berater von Papst Franziskus als „Abschaum“, „Freak“ und „Kinderbefummler“ beschimpft wird. Die Polizei hat Schwierigkeiten, Pell vor der aufgebrachten Menge zu schützen. Kurz zuvor hatte der Richter Peter Kidd den Schuldspruch gegen Pell wegen sexuellen Missbrauchs und sexueller Belästigung von zwei Minderjährigen bestätigt. Das Urteil war schon Mitte Dezember von einem Geschworenengericht in Melbourne einstimmig gefällt worden, durfte aber bis Dienstag nicht publik gemacht werden, um den Verlauf eines zweiten Prozesses gegen Pell nicht zu beeinflussen, der mittlerweile abgesagt wurde. Das Gericht hatte eine Berichterstattung verboten. Dennoch war der Schuldspruch durch eine Indiskretion schon im Dezember bekanntgeworden.
Am ersten Tag des Prozesses, der im August begann, las der Richter die fünf Anklagepunkte gegen Pell vor. Die Anklage lautete zunächst auf zweimal „sexuelle Penetration von Kindern unter 16 Jahren“. Die drei anderen Punkte lauteten auf „obszöne Handlungen“ an oder in Anwesenheit von Kindern unter 16 Jahren. Zu einem späteren Zeitpunkt des Prozesses wird der erste Anklagepunkt ebenfalls auf „obszöne Handlungen“ geändert. Pell soll im Jahr 1996 zwei Chorknaben sexuell missbraucht haben. Die beiden waren damals zwölf und 13 Jahre alt. Einer von ihnen ist im Jahr 2014 an einer Überdosis Heroin gestorben. Nach jedem Anklagepunkt wurde Pell gefragt, ob er sich schuldig bekennt oder nicht. „Nicht schuldig!“, erwiderte er mit kräftiger Stimme. Fünfmal hintereinander.
Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft dürfte der erste Vorfall, der Pell zur Last gelegt wird, am 15. oder 22. Dezember 1996 passiert sein, in der Kathedrale von St. Patrick in Melbourne nach der Sonntagsmesse. Pell war damals erst seit kurzem zum Erzbischof der Stadt befördert worden. In dieser Kirche ist es üblich, dass die Gottesdienst-Besucher in einer Prozession durch die schweren Kirchentüren ins Freie schreiten, unter ihnen nach Stimmlagen geordnet auch der Chor. An der Prozession nahmen damals auch zwei Chorknaben teil, Stipendiaten des St. Kevin’s College von Melbourne, einer katholischen Schule mit einem makellosen Ruf.
Die beiden Jungen waren für ihre glockenhellen Stimmen für das College ausgewählt worden. Sie hatten offenbar auch einen leichten Hang zur Aufmüpfigkeit. Nach der Messe setzten sich die beiden von der Prozession ab. Sie drangen in die Sakristei ein. Nach der Messe wollten sie „etwas Spaß haben“, wie sich der Staatsanwalt Mark Gibson vor dem Gericht in Melbourne ausdrückte. Die beiden Jungen fanden in einem Schränkchen ein Fläschchen Messwein. Nach Angaben des einen tranken sie auch ein paar Schlucke Wein.
Es war der Moment, in dem George Pell in die Sakristei trat. Der Erzbischof erwischte die Jungen dabei, „ungezogen“ gewesen zu sein, wie sich das Opfer vor Gericht ausdrückte. Er baute sich mit seiner ganzen imposanten Figur vor ihnen auf. „Das gibt Ärger“, oder so etwas Ähnliches habe Pell gesagt, erinnert sich der Zeuge. Nach seiner Darstellung schob Pell dann sein Priestergewand zur Seite und öffnete seine Hose. Dann zog er den Kopf des einen Chorknaben nach unten. Nach einer Weile ließ der Erzbischof von ihm ab, fasste den zweiten Jungen am Hinterkopf und zwängte ihm seinen Penis in den Mund.
Insgesamt soll dies ein paar Sekunden gedauert haben, sagte das Opfer vor Gericht aus. Dann habe Pell ihm befohlen, seine eigene Hose herunterzuziehen. Pell fasste die Genitalien des Jungen an und masturbierte dabei mit der anderen Hand. Nach einer kurzen Weile sei Pell wieder aufgestanden und habe die beiden hinausgeschickt.
Der Missbrauch hatte nach Schätzung der Staatsanwaltschaft insgesamt fünf bis sechs Minuten gedauert. Keiner der beiden Jungen habe jemals über das Geschehen gesprochen. „Nicht darüber zu sprechen war meine Art, damit umzugehen. Ich verdrängte es bis in die dunkelsten Ecken und Winkel meines Gehirns“, sagte der heute 35 Jahre alte Mann vor Gericht aus. Etwa einen Monat nach diesen ersten Vorkommnissen soll Pell dann noch einmal den Jungen in der Kathedrale bedrängt haben. Er drückte den Teenager an eine Wand und fasste ihm mit seiner Hand fest zwischen die Beine. „Niemand sagte etwas. Es war in wenigen Sekunden vorbei“, so das Opfer später vor Gericht.
Insgesamt wurden im Verlauf des Prozesses 25 Zeugen gehört, darunter mehrere Chorknaben und Kirchenmitarbeiter. Pell selbst wies die Anschuldigungen während einer Vernehmung durch die australische Polizei im Vatikan 2016 als „Müll“, „Lüge“ und „geistesgestörte Lüge“ zurück. Sein Anwalt bemühte sich, den Prozess als Hexenjagd gegen Pell darzustellen. In seinem Schlussplädoyer sagte er in Anspielung auf einen berühmten Filmbösewicht, Pell werde wie „ein Darth Vader der katholischen Kirche“ dargestellt.
Tatsächlich ist Pell in den vergangenen Jahren zu einer Hassfigur geworden. Als einen der ranghöchsten Repräsentanten der australischen Kirche machen viele ihn für die Vertuschung des über die Jahre weit verbreiteten Missbrauchs verantwortlich. Pell hat sich stets geweigert, ein eigenes Fehlverhalten einzugestehen. Er ist nicht der Typ für Selbstzweifel. Im Jahr 1941 in Ballarat geboren, war er als Kind kränklich. Dennoch wäre aus dem Sohn eines englischstämmigen Boxsportlers fast ein professioneller Rugby-Spieler geworden. Unter Einfluss seiner irischen Mutter entschied er sich aber für eine kirchliche Laufbahn. Nach dem Studium in Oxford war er als Priester in seiner Heimatstadt Ballarat tätig. In dem früheren Goldgräberort hat sich eine ungewöhnlich hohe Zahl an Priestern, Ordensbrüdern und Lehrern an Kindern vergangen. Doch Pell blieb von den Skandalen weitgehend unberührt, er wurde erst zum Erzbischof von Melbourne und später von Sydney ernannt, bevor ihn Papst Franziskus 2014 als Präfekt des neugeschaffenen Wirtschaftssekretariats in den Vatikan berief.
Am Schluss der letzten Sitzung vor dem Urteilsspruch im Dezember ermahnte der Richter die Geschworenen, sie sollten Pell nicht zum Sündenbock für das Verhalten der katholischen Kirche machen. Die Geschworenen erklärten ihn einstimmig und in allen Anklagepunkten für schuldig. Das Strafmaß für Pell wird erst in den kommenden Tagen festgelegt. Zudem muss das Gericht auch noch über das Berufungsverfahren entscheiden, das Pells Anwälte beantragt haben.
Das Urteil erschüttert die katholische Kirche, besonders aber die katholische Gemeinde in Australien. Für die 5,5 Millionen australischen Katholiken war es ein Grund zum Stolz, dass es einer von ihnen in der Hierarchie des Vatikans so weit gebracht hatte. Papst Franziskus hatte Pell vor fünf Jahren nach Rom geholt, um die Finanzen des Heiligen Stuhls in Ordnung zu bringen.
Der Vatikan sprach nach Bekanntwerden des Schuldspruchs gegen Kardinal Pell von einer „schmerzhaften Nachricht“, die nicht nur in Australien „viele Menschen schockiert“ habe. Sein Sprecher Alessandro Gisotti bekräftigte am Dienstag in Rom, dass der Vatikan den „höchsten Respekt“ vor den australischen Justizbehörden habe und verwies darauf, dass bis zu einer abschließenden Beurteilung des Falles der Ausgang des Berufungsverfahrens abzuwarten sei. „Kardinal Pell hat seine Unschuld beteuert und hat das Recht, sich zu verteidigen.“ In der von Gisotti verlesenen Erklärung heißt es weiter, dem Kardinal bleibe auf Anweisung des Papstes „die öffentliche Ausübung des Priesteramtes und der Kontakt zu Minderjährigen verboten“. Diese schon zum Zeitpunkt der Rückkehr Pells nach Australien im Juni 2017 verhängte „Vorsichtsmaßnahme“ gelte weiter, bis „die Fakten definitiv geklärt“ seien.
Kurz vor seiner Rückreise nach Australien hatte sich Pell auch von seinem Posten als Präfekt des Wirtschaftssekretariats beurlauben lassen. Einen Nachfolger Pells auf dem wichtigen Posten im Vatikan hat Franziskus noch nicht ernannt. Die Amtszeit Pells als „Finanzchef“ des Vatikans war am vergangenen Sonntag nach fünf Jahren turnusgemäß zu Ende gegangen. Bis Oktober 2018 war Pell außerdem Mitglied des Kardinalsrates, den Franziskus im April 2013 als Beratungsgremium für eine Reform der römischen Kurie ins Leben gerufen hatte. An der Arbeit des Kardinalsrates, dem inzwischen nur noch sechs Mitglieder angehören, unter ihnen der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Reinhard Kardinal Marx, hatte sich Pell seit Sommer 2017 nicht mehr beteiligt. Pells Ausscheiden aus dem Rat war am 12. Dezember vom Vatikan mitgeteilt und unter anderem mit seinem „fortgeschrittenen Alter“ begründet worden. Einige Stunden zuvor war der Schuldspruch des Geschworenengerichts gegen Pell durch eine Indiskretion bekanntgeworden. In Anlehnung an die ähnlich lautende Erklärung der australischen Bischofskonferenz heißt es in der Mitteilung des Vatikans vom Dienstag: „Ohne dem abschließenden Urteil vorzugreifen, beten wir zusammen mit den australischen Bischöfen für alle Opfer von Missbrauch. Wir bekräftigen aufs Neue unseren Willen, alles nur Mögliche zu tun, damit die Kirche ein sicherer Ort für alle ist, vor allem für Kinder und für die verletzlichsten Menschen.“
Pell war über Australien und den Vatikan hinaus einer der weltweit prominentesten Kardinäle. Bekannt wurde er vor allem als einer der Wortführer des konservativen Flügels im Kardinalskollegium. So sprach er sich entschieden gegen Reformen im Bereich der kirchlichen Sexualmoral aus und war ein Gegner des päpstlichen Entgegenkommens gegenüber Katholiken, die nach einer Scheidung abermals heiraten.
Die Anschuldigungen, wegen derer Pell nun verurteilt wurde, waren noch nicht bekannt, als Papst Franziskus den australischen Kardinal 2013 in seinen Kardinalsrat berief. Seit längerem gab es damals aber schon Vorwürfe, Pell habe sexuellen Missbrauch vertuscht.

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